Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
ist. In solchen Momenten soll man nicht allein sein. Und schon gar nicht, wo noch dazu das mit dem kleinen Simon passiert ist.«
»Sander. Nicht Simon.«
Inger Johanne versuchte zu lächeln.
Als sie am Vorabend nach Hause gekommen und ihr schon nach wenigen Minuten vor dem Fernseher aufgegangen war, was sich im Regierungsviertel und danach auf Utøya zugetragen hatte, hatte sie weitere ziemlich verzweifelte Versuche unternommen, Yngvar zu erreichen. Er hatte einen fast unleserlichen Zettel auf dem Esstisch hinterlassen, dass er wegen des Terroranschlags zum Dienst müsse und nicht wisse, wann er wieder heimkommen könne. Sie begriff eigentlich nicht, was ein Kriminalinspektor, der vor allem im Büro oder im Vernehmungsraum saß, nützen sollte bei dem Verlauf, den dieser katastrophale Nachmittag und Abend nahmen. Er beklagte sich ja selbst oft darüber, vor allem nach zwei Glas Wein. Yngvar Stubø wurde immer mehr zu einer Büroratte. Früher einmal hatte er als der beste Vernehmungsleiter des Landes gegolten. Nachdem er sich dann abermals zu einer leitenden Stellung hatte überreden lassen, verschwand viel von seiner Arbeitsfreude unter Papieren und Gewerkschaftsforderungen und Etatberechnungen, und so jammerte er. Inger Johanne hatte versucht, ihn im Büro und auf dem Handy anzurufen. Außerdem hatte sie es bei fünf seiner Kollegen versucht, aber ohne auch nur einen einzigen zu erreichen.
Als sie aufgab, war die Rede von zehn Toten auf Utøya.
Sie hatte mit Isak telefoniert, dem Mann, mit dem sie in einem früheren Leben verheiratet gewesen war und der am vergangenen Sonntag mit Kristiane und Ragnhild für drei Wochen nach Sainte-Maxime gefahren war. Inger Johanne hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, ihre Schwester anzurufen, aber sie hatten sich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, und es war wohl kaum der richtige Abend für den Versuch, eine Geschwisterbeziehung zu flicken, die streng genommen schon seit ihrer Kindheit gewaltige Löcher aufwies.
Ohne wirklich darüber nachzudenken, hatte sie am Ende die Nummer der Mutter gewählt, und die hatte nach drei Klingeltönen abgenommen und ruhig erklärt, sie werde so schnell wie möglich kommen.
Ihre Mutter hatte sich wirklich verändert, seit sie vor genau einem halben Jahr in einer Januarnacht Witwe geworden war. Inger Johannes Vater hatte wie üblich ein Glas zu viel getrunken, ehe er neben seiner Frau eingeschlafen war, in Flanellschlafanzug und Bettsocken, um nach sechsundvierzig Ehejahren nicht mehr aufzuwachen.
Inger Johanne hatte immer befürchtet, die Mutter werde allein zurückbleiben. Die Vorstellung, sich um einen quengeligen Vater kümmern zu müssen, wirkte weniger abschreckend als die, ihre geschäftige Mutter könnte dann noch häufiger vor der Tür stehen. Aber schon, als sie der Tochter am Morgen von Ragnhilds siebtem Geburtstag den Todesfall gemeldet hatte, schien ihre Mutter eine andere geworden zu sein. So gefasst und vernünftig, hatte Yngvar abends gesagt. Eher betroffen und resigniert, hatte Inger Johanne erwidert. Ein bisschen tot, dachte sie, als sei die Symbiose ihrer Eltern wortwörtlich zu verstehen gewesen und die dreiundsiebzig Jahre alte Frau sei jetzt nur noch zur Hälfte am Leben.
Und das änderte sich nicht.
Inger Johannes Trauer um den Vater wich rasch dem Staunen darüber, wer ihre Mutter jetzt geworden war. Nach der Beerdigung lud Inger Johanne sie pflichtschuldig ein, bei ihnen zu bleiben. Für eine Weile, hatte sie gesagt, nur bis das Haus der Eltern nicht mehr so leer wirkte. Die Mutter lehnte entschieden ab, packte ihren Koffer und bestand darauf, mit ihrem eigenen Wagen nach Hause zu fahren.
Etwas in ihrer Mutter war erloschen, und Inger Johanne schämte sich insgeheim, weil die Mutter ihr so besser gefiel. Als der Winter verging und sich der Frühling und dann der Sommer einstellten, begann ihre Mutter ein Witwenleben zu führen, wie Inger Johanne es kaum hätte voraussagen können. Sie rief seltener an und tauchte niemals im Hauges vei auf, ohne nachdrücklich eingeladen worden zu sein. Die Mutter hatte mit den Kindern immer wunderbar umgehen können, war geduldig und liebevoll gewesen, aber jetzt schien sie sie alle wie Kinder zu behandeln. Mit einem kleinen Lächeln für alles, was früher zu endlosen, unfruchtbaren Streitereien geführt hätte. Sie beklagte sich nicht einmal mehr darüber, dass Jack haarte.
Die Mutter schüttelte eine Thermoskanne. Das leise Schwappen veranlasste sie, aufzustehen, um
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