Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
zu alt, um noch einmal Großmutter zu werden, dachte Inger Johanne.
Ich bin zu alt für eine weitere Runde, versuchte sie, nicht zu denken.
Vielleicht irrte sie sich ja auch. Es gab andere körperliche Veränderungen, die vielleicht ein wenig zu früh kamen. Und Übelkeit, wehe Brüste und Unruhe konnten auch ganz andere Ursachen haben. Vielleicht steckte ja ein Virus dahinter.
»Kann ich dein Auto leihen?«, fragte sie. »Ich glaube, ich sollte mal bei Ellen vorbeischauen. Yngvar hat den Volvo genommen, und der alte Golf verreckt bei jeder zweiten Straßenecke.«
»Natürlich«, sagte die Mutter überrascht. »Soll ich hierbleiben?«
»Ja«, sagte Inger Johanne, ohne nachzudenken.
Sie zögerte einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Jedenfalls bis morgen. Bis ich mehr von Yngvar gehört habe. Wenn dir das recht ist?«
»Ja. Ich habe mir heute Vormittag meine Toilettensachen und Wäsche zum Wechseln geholt, sicherheitshalber. Aber nur, wenn du das wirklich willst.«
Wieder starrte die Mutter den Bildschirm an.
»Meine Schlüssel hängen am Haken neben der Wohnungstür«, sagte sie mit schwachem Zittern in der Stimme. »Ich fange an, Sachen zu verlegen. Schlüssel und so was. Das Beste ist, alles ist an seinem Platz, das habe ich jetzt begriffen.«
Als hätte ihre Mutter nicht immer nach dem Motto »Alles an seinem Platz« gelebt, dachte Inger Johanne und ging zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie stehen. Wegen des vagen Drucks in den Brüsten steckte sie durch den Pullover den Daumen in den BH und zog vorsichtig daran. Dabei nahm sie ihren eigenen Körpergeruch wahr, der Pullover war doch nicht so sauber, wie sie geglaubt hatte. Sie zog ihn aus, während sie zum Schlafzimmer ging, um sich einen anderen zu suchen. Jack erhob sich und kam hinter ihr her, während sein Schwanz hin und her fegte, ehe er eine schmutzige Socke vom Boden aufhob. Er hatte immer etwas im Maul, wenn sie Gassi gingen, ein Zeichen dafür, dass in seinem überaus gemischten Stammbaum auch ein Retriever vorkommen musste.
»Hierbleiben«, sagte Inger Johanne streng und zog ihm die Socke aus dem Maul. »Und nichts anfassen.«
Dasselbe hatte sie am Vorabend zu Ellen, Jon und Joachim gesagt.
Sie schlüpfte in einen flaschengrünen Pullover und erstarrte abermals. Es war wirklich etwas angerührt worden, ganz wie sie es sich gestern gedacht hatte. Entfernt, hinzugefügt oder bewegt: eine Veränderung, aber nicht groß, im Wohnzimmer, in der Diele, im Bad oder in der Küche. Nur wollte ihr nicht einfallen, was es war.
Vermutlich spielte es auch überhaupt keine Rolle, tröstete sie sich.
In einem kleinen Büro im Grønlandsleiret 44 saß Jon Mohr und starrte die Wand an. Sein schmales Gesicht wirkte geschwollen, seine Augen waren gerötet, und darunter hing schlaff die Haut. Immer wieder befeuchtete er sich die Lippen. Seine rechte Hand spielte mit einem Splitter an der Armlehne.
»Ich verstehe ja, dass das schwierig für Sie ist«, sagte der junge Polizist mit der etwas zu großen Uniform und dem einen Stern auf der Schulterklappe. »Aber bei dem Zustand, in dem Ihre Frau sich befindet, hielt ich es für besser, die Zeugenbefragung hier auf der Wache vorzunehmen. Ich glaube nicht, dass wir weit kommen würden, wenn sie dabei wäre. Und wie Sie sicher verstehen, müssen wir klarstellen, was geschehen ist.«
Jon Mohr gab keine Antwort. Noch immer starrte er einen Punkt an der Wand an, gleich oben links über dem jungen Polizisten.
»Na gut. Mal sehen. Ich bin also Henrik Holme ...«
Die Finger liefen über die Tastatur des Rechners, der auf einem Beistelltisch stand.
Er wusste nicht so ganz, was er erwartet hatte. Er hatte doch noch nie jemanden vernommen, der gerade jemanden verloren hatte. Streng genommen hatte er überhaupt noch nicht viele Vernehmungen durchgeführt. Fünf vielleicht, und bei allen war es um Geschwindigkeitsüberschreitung gegangen.
Ihm war heiß.
Und er war ziemlich unsicher, wenn er es sich genau überlegte, was er allerdings zu vermeiden versuchte.
Es war schon schlimm genug gewesen, als er am Vorabend plötzlich ganz allein nach Grefsen geschickt worden war, wegen eines verdammten Unfalls. Er hatte in der Schule natürlich einiges über Trauerreaktionen gehört, aber Ellen Mohrs Hysterie übertraf doch alles, was er sich hätte vorstellen können. Sie war sicher vorher auch schon ziemlich verrückt, hatte Henrik Holme gedacht, sie schäumte und kreischte und klammerte sich an den verletzten Körper des
Weitere Kostenlose Bücher