Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Gartenbank und baumelte mit den Beinen. Der ernste Ausdruck des schmalen Gesichts ließ die großen wasserblauen Augen noch größer erscheinen, und ihre Haare bildeten im Wind einen Glorienschein um ihren Kopf. Sie war siebzehn Jahre alt, aber klein wie eine zierliche Dreizehnjährige.
»Wohl kaum. Das halbe Gewicht, schätze ich mal.«
Inger Johanne ging weiter nach oben.
Ihre Mutter kam hinterher.
»Wenn du mich nicht brauchst«, sagte sie leise, »dann gehe ich jetzt lieber schlafen.«
»Ich beziehe Kristianes Bett neu«, sagte Inger Johanne.
»Ich kann ja wohl eine Nacht im Bettzeug meiner eigenen Enkelin schlafen. Gute Nacht, mein Schatz. Ich hoffe wirklich, dass du schlafen kannst.«
Diesmal wich Inger Johanne nicht aus, als die Mutter federleicht über ihre Wange strich. Im Gegenteil, sie lächelte müde und legte ihre Hand auf die der Mutter.
»Schlaf du auch gut.«
Für ein oder zwei Sekunden ließen sie ihre Blicke ineinander ruhen. Kristiane hatte ihre Augen von der Großmutter geerbt, konnte Inger Johanne gerade noch denken. Die gleiche Form und Farbe, und jetzt, im vergangenen halben Jahr, die gleichen plötzlichen Momente der Resignation.
»Ich habe dir etwas zu essen hingestellt«, sagte die Mutter. »Wenn du nichts möchtest, stell es einfach zurück in den Kühlschrank.«
Obwohl sie sich alle Mühe gab, leise zu sein, ächzte der Boden unter ihr, als sie durch den Gang schlich. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu Kristianes Zimmer und sog für einen Moment den Geruch von Nachtcreme und Zahnpasta ein, der noch in der Luft hing.
Danach legte Inger Johanne das Ohr an ihre eigene Schlafzimmertür.
Ein schwaches, gleichmäßiges Schnarchen war zu hören, wenn sie den Atem anhielt. Der Wunsch, Yngvar zu wecken und mit ihm über alles zu sprechen, was passiert war, wurde für einen Moment so stark, dass ihre Hand sich der Klinke näherte. Dann riss sie sich zusammen, schlich ins Wohnzimmer mit der offenen Küche und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu.
Die Mutter hatte aufgeräumt. Jack lag unter dem Couchtisch und schlief, er bewegte kaum die Ohren, als Inger Johanne »Hallo« flüsterte. Alle Flächen waren leer und sauber, der Boden war offenbar staubgesaugt, und die Küche sah aus, als wäre sie zu einer Wohnungsbesichtigung hergerichtet worden. Inger Johanne konnte nicht begreifen, wie die Mutter das alles geschafft hatte. Sie war doch nur anderthalb Stunden weg gewesen. Das Einzige, was auf dem Tisch stand, war ein Teller mit zwei belegten Broten. Eins mit grober Leberwurst, warmen Champignons und einer kross gebratenen Scheibe Speck, das andere mit Schinken und Ananas über einem Salatblatt. Alles war ordentlich mit Frischhaltefolie überzogen, und neben dem Teller stand ein Glas Rotwein. Ebenfalls mit Folie geschützt.
»Mama«, flüsterte Inger Johanne und merkte plötzlich, wie hungrig sie war.
Das Essen schmeckte nach den Siebzigerjahren. Nach Kindheit und Samstag und Mamas Butterbroten. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so sehr über zwei Brote gefreut hatte, und aß mit Messer und Gabel, wie ihre Mutter das früher gewollt hätte.
Inger Johanne aß langsam und trank kleine Schlucke Wein dazwischen. Sie war noch immer ziemlich entsetzt über die Demontage von Sanders Existenz. Sie hatte gerade noch aus seinem Zimmer verschwinden können, als Joachim und Jon die Treppe heruntergekommen waren, und nur noch einen kurzen Abschiedsgruß gemurmelt, dann war sie zu ihrem Auto hinausgegangen.
Sulamit lag noch immer oben auf der Steintreppe.
Sie hatte die Versuchung verspürt, das Feuerwehrauto aufzuheben und mitzunehmen, wie in einer Art Verpflichtung, sich in aller Heimlichkeit darum zu kümmern. Aber sie hatte es nur tiefer unter die Rhododendronblätter geschoben.
Sie bohrte die Gabel in den allerletzten Brotrest.
In der nächsten Zeit würden in Norwegen so viele Kinderzimmer leer stehen, dachte sie und kaute langsam. Unberührt, erfüllt von einem verschwindenden Duft nach Kindern, die nicht mehr da waren. Mausoleen für ein Leben, das sich nie richtig entfalten durfte. Mütter und Väter würden ab und zu hineingehen, irgendeinen Gegenstand aufheben, einen Hauch von Nähe verspüren, eine Berührung von etwas, das noch hätte da sein müssen.
Sander lag in Plastikdosen und Pappkartons hinter einer schweren dunklen Eichentür, von der das Licht bald seinen Namen getilgt haben würde.
Yngvar hatte ihr erzählt, dass er die Kleider seiner verstorbenen
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