Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
hatte das schon damals seltsam gefunden.
Jetzt tat das Fehlen von greifbaren Erinnerungen an Sander weh. Es kam ihr unanständig vor.
Sie winkte Ellen kurz zu und ging leise die Treppe hinunter. Die Diele war untypisch für Norwegen: ein rechteckiger Raum von etwa dreißig Quadratmetern. Die sechs Türen aus Eiche sahen alle gleich aus, bis auf die zu Sanders Zimmer. Als Inger Johanne am Vorabend die Familie Mohr verlassen hatte, stand der Name des Jungen in großen bunten Buchstaben darauf. Die waren jetzt verschwunden. Das Holz der Tür war dort, wo es acht Jahre lang vor Licht geschützt gewesen war, etwas blasser. Sanders Name war noch zu lesen, aber nur mit Mühe.
Inger Johanne blieb stehen. Aus dem ersten Stock hörte sie einen leisen Wortwechsel zwischen Joachim und Jon. Ellen sagte nichts. Vielleicht war sie nun doch eingeschlafen, sie musste vollkommen erschöpft sein.
Einem Impuls folgend, ging Inger Johanne zu Sanders Tür. Der dicke Eichenboden knarrte kein bisschen, ganz anders als das Parkett aus dem Baumarkt, das Yngvar im vergangenen Jahr verlegt hatte und das es unmöglich machte, sich irgendwohin zu schleichen.
Sie merkte, wie ihr Puls ein wenig schneller ging, als sie vorsichtig die Hand auf die Klinke legte. Auch die war gut geölt, und sie konnte die Tür lautlos öffnen. Ein schwacher Geruch, wie nach Wandfarbe, streifte ihre Nase.
Eine Nachttischlampe brannte und tunkte das Zimmer in ein warmes goldenes Licht.
Inger Johanne ließ die Klinke los, als ob sie plötzlich Strom führte.
An der einen Wand standen drei mal drei Kisten gestapelt. Laken, Bett- und Kissenbezug waren entfernt worden. Die Decke lag ordentlich zusammengefaltet am Fußende des Bettes, das aussah wie ein knallroter Formel-1-Wagen. Der große Schreibtisch unter dem Fenster war leer, bis auf einen großen, mit braunem Klebeband versiegelten Plastikkasten. Jemand hatte mit rotem Filzstift auf das Klebeband geschrieben: »Heilsarmee.«
Eine Schranktür stand einen Spalt offen. Auch der Schrank war leer.
Inger Johanne presste die Hand auf die Brust. Sie schaute zur Decke hoch. Die war weiß und frisch gestrichen, aber nur einmal. Unter dem Weiß waren noch die Konturen von vier großen gemalten Autos zu sehen, alle mit wütenden Schwänzen aus grauen Auspuffgasen.
Nach dem nächsten Streichen würden sie ganz verschwunden sein.
»Psst«, flüsterte Inger Johannes Mutter und legte den Finger an ihren Schmollmund.
Sie trug Morgenrock und Pantoffeln, obwohl es erst Viertel nach zehn war. Ihr Gesicht war blank von einer fetten Nachtcreme, und um die Schultern trug sie ein altes Katzenfell, auf dessen Wirkung sie mit unerschütterlichem Glauben schwor.
»Yngvar schläft!«
Eine tiefe Sehnsucht ließ Inger Johanne laut nach Luft schnappen, dann lehnte sie sich in dem engen Treppenhaus zu ihrer Wohnung im ersten Stock des Zweiparteienhauses in Tåsen an die Wand. Ihre Mutter hatte wohl das Auto gehört und war ihr entgegengekommen.
»Er ist total erschöpft«, berichtete die Mutter halb flüsternd. »Ich konnte ihn nur mit Mühe zum Essen bringen. Ich wollte ja nur hierbleiben, bis er gekommen wäre, aber ich hatte mich schon zurechtgemacht, und da dachte ich ...«
Ihr Blick war ängstlich und fragend.
»Natürlich bleibst du bis morgen«, sagte Inger Johanne. »Was hat er denn die ganze Zeit gemacht?«
»Das wollte er nicht sagen. Er hat fast nichts gesagt. Er wirkte völlig ... völlig fertig, sagt ihr das nicht so? Aber ...«
Ihre Mutter streckte eine Hand nach ihrer Wange aus, zog sie aber rasch zurück, als Inger Johanne mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung auswich.
»Was ist denn los mit dir, Liebes? Du bist so ...«
»Es war einfach ein anstrengender Tag. Ich bin auch reichlich fertig, muss ich zugeben. Auch wenn ich fast den ganzen Tag geschlafen habe.«
Inger Johanne drückte sich an der Mutter vorbei und stieg die Treppe hoch. Sie blieb für einen Moment vor einem der zahllosen Familienbilder stehen, die vom Fuß der Treppe bis nach oben die ganze Wand bedeckten. Kristiane lächelte sie zahnlos an, schmächtig und blond mit sieben Jahren, mit einer schon ziemlich abgenutzten Sulamit in den Armen.
»Dieses Bild ist so schön«, sagte sie leise, ihre Mutter war auf der engen Treppe hinter ihr stehen geblieben.
»Ja. Aber das da ist fast noch besser. Da hat sie solche Ähnlichkeit mit dir.«
Die Mutter zeigte auf ein Bild, das erst zwei Monate alt war. Kristiane saß auf der Kante einer
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