Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
antwortete Inger Johanne nach kurzem Überlegen. »Ich komme.«
Sie las die Mitteilung noch einmal, dann löschte sie sie. Es würde nicht leicht sein, sie zu vergessen, aber sie wollte es immerhin versuchen.
Auf einem Ponton vor Aker Brygge saß Joachim Boyer mit einem Halben vor sich auf dem Tisch und einem von Norwegens bestbezahlten Fußballspielern neben sich. Der Mann hieß Christopher Robin. Seine Mutter kam aus Norwegen, der Vater war ein südafrikanischer Arzt, der in den Sechzigerjahren als Flüchtling nach Norwegen gekommen und noch vor dem neunten Geburtstag seines Sohnes gestorben war. Christopher war groß und sah ungeheuer gut aus, mit europäischen Zügen und der dunklen Hautfarbe seines Vaters. Er besaß außerdem einen linken Fuß, der zu den besten in der Premier League gehörte, aber leider nicht so viel Verstand, dass er mit dem in neun Jahren in England angehäuften Vermögen hätte umgehen können. Vor zwei Jahren war er in ein großes Immobilienprojekt geraten, das sich in die falsche Richtung entwickelt hatte. Das heißt in Richtung Skandalpresse, die sich in Details über Spielhöllen, Sexklubs, osteuropäische Mafia und Schwarzarbeit geradezu suhlte. Als der Fall drei Tage lang für Schlagzeilen gesorgt hatte, hatte sich der inzwischen verzweifelte Agent des Fußballstars Joachim Boyer eingeschaltet. Der Medienstratege hatte zehn Stunden gebraucht, um einen Plan zu erstellen, einen Tag, um ihn in die Tat umzusetzen, und seitdem war Christopher Robin wieder der joviale, liebe, populäre Junge, den sein Name erwarten ließ. Der Mann sei übel betrogen worden, hieß es nun. Seine Dankbarkeit zeigte sich in einem ungewöhnlich dicken Honorar und einer unerschütterlichen Freundschaft.
»Was war denn das?«, fragte Christopher Robin lächelnd, als Joachim ihm das mit Diamanten besetzte Vertu-Telefon zurückgab. »Frauengeschichten?«
»So was in der Art«, sagte Joachim und lächelte ebenfalls. »Musste nur kurz eine Mitteilung von einem Telefon schicken, das man nicht so leicht identifizieren kann. Ich hab sie auch gleich gelöscht.«
»Nichts Verbotenes, hoffe ich?«
Christopher Robin grinste und steckte das Telefon lässig in die hintere Tasche seiner Jeans.
»Ich hab dich damals aus verbotenen Sachen rausgeholt«, sagte Joachim. »Da werd ich dich doch jetzt nicht in so was reinziehen. Prost.«
Sie stießen an und tranken.
Henrik Holme fand es unvorstellbar, dass er erst vor einer Woche ohne eine Ahnung, worum es ging, in den Glads vei in Grefsen geschickt worden war. Normalerweise verging die Zeit schnell, wenn er so viel zu tun hatte, aber diese Woche war unglaublich langsam dahingekrochen. Obwohl es schon nach sechs Uhr war, hatte er nicht vor, nach Hause in das winzige Mädchenzimmer zu gehen, das eine Großtante in Frogner ihm nun seit fast vier Jahren zur Verfügung stellte.
Er hatte lange gebraucht für die Berichte über die Gespräche mit Sanders Großmutter und seiner Lehrerin. Eigentlich hätte er sie als Vernehmungsprotokolle schreiben müssen. Da er aber keine Notizen von diesen Gesprächen hatte, war das unmöglich, und sicher würde die Polizeijuristin ihn deshalb zusammenstauchen. Umso wichtiger ist es, gründlich zu sein, dachte er. Tove Byfjord hatte seit Dienstag nicht mehr nach ihm gefragt und hatte auch ihr Versprechen nicht gehalten, ihn mit einem erfahreneren Ermittler zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie es ja vergessen. Vielleicht konnte sie auch einfach keinen Kollegen auftreiben.
Henrik Holme kam sich vor wie ein bedeutungsloser Satellit im Umlauf um einen riesigen Planeten, auf dem alle nur mit einem beschäftigt waren.
Was ihm eigentlich nur recht war, überlegte er sich jetzt.
Er hatte seinen eigenen Fall, und dieser Fall wurde immer wichtiger für ihn.
Außerdem hatte er angefangen zu lesen. Zuerst hatte er im Netz nach Informationen über »Kindesmisshandlung« gesucht, aber trotz der mehr als fünfzigtausend Treffer hatte ihn das nicht viel klüger gemacht. Mit »child abuse « war er dann auf über drei Millionen Treffer gekommen. Einige dieser Artikel sahen interessant aus, und er versuchte, sie zu lesen, aber sein Englisch war nicht gut genug, um Forschungsberichte zu verstehen. Dennoch hatte er etliche Artikel ausgedruckt, auf Norwegisch und auf Englisch, und jetzt sah er sie aufmerksam durch, einen nach dem anderen, und markierte alles, was er für besonders wichtig hielt, mit einem gelben Stift.
Das Frustrierende bei den
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