Die geprügelte Generation
Was war der Anlass für dieses Buch und wovon handelt es?
Zu meiner Kindheit gehört Lakritzwasser, das meine Oma aus kleinen, sorgfältig von einem großen schwarzen Brocken abgeschnittenen Stückchen herstellte. Und das von mir ebenso gerne getrunken wurde wie eine Generation später von meinem Sohn die Orangenlimonade. Zu meiner Kindheit gehört der Nudelsalat, der am Abend vor Familienfesten mit Tomaten, hartgekochten Eiern und Gewürzgurken angesetzt wurde und erst kurz vor seinem Verzehr die Mayonnaise hinzubekam. Zu meiner Kindheit gehört aber auch der Kochlöffel. Nicht als Küchenutensil, sondern als Schlaginstrument. Immer dann, wenn ich tagsüber irgendwie »muksch« gewesen war, nicht pariert hatte – wie es so schön hieß –, dann wurde mein Vater, da hatte er sein Jackett noch nicht an die Garderobe gehängt, schon mit den Worten begrüßt: Das Kind hat heute Widerworte gegeben. Eine Information, die ihn mit einem genervten Seufzen die Küchenschublade aufziehen und den Kochlöffel herausholen ließ. Dann ging es ab ins Wohnzimmer, wo ich schon dessen harrte, was nun folgen würde. Und dann setzte es was. Aber nicht zu knapp. Ich hatte, wenn man so will, eine für die 50er und auch die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ganz normale Kindheit.
Deshalb, weil sie so normal war, habe ich eigentlich nie mit jemandem darüber gesprochen. Nicht mit Freunden, nicht in meiner Freizeit bei Bier oder Wein, nicht bei politischen Diskussionen, einfach nie. Dabei hat mich diese Vergangenheit die ganze Zeit beschäftigt, ganz hinten in meinem Kopf. Hat meine Gefühle beeinflusst, mein Verhalten geprägt, war mitverantwortlich für Ängste, die mich begleiteten, für Beziehungsprobleme, die ich hatte. Irgendwie war dieser Vertrauensbruch meiner Eltern, den ich bei jeder Tracht Prügel schmerzlich empfand, nie mehr ausmeinem Leben wegzudenken. War immer da. Übertrug sich auf andere. Hat aus mir einen Menschen gemacht, der lange Jahre mit dem Gefühl durch die Welt ging: Keiner liebt mich! Ein Gefühl, das ich für mein höchst eigenes, besonderes, individuelles hielt.
Doch als ich die ersten geprügelten Kinder meiner Generation für dieses Buch interviewte, stellte ich fest: Den meisten von ihnen erging es genauso. Auch sie hatten die Schläge ihrer Kindheit kaum jemals thematisiert. Es lohnte sich ja nicht über etwas zu reden, was sowieso fast jeder kannte und das einfach ganz normal zur Kindheit dazu gehörte! Damals! Es wusste doch jeder, dass man zu Hause »Senge« bekommen hatte. So what? Was noch groß darüber lamentieren?
Auch bei meinen Interviewpartnern waren die Prügel ihrer Kindheit bis in die Seele vorgedrungen. Die Erinnerung daran hat die meisten ihr Leben lang begleitet. Hat bei dem einen das über Jahrzehnte andauernde Gefühl ausgelöst, keiner sieht mich, keiner mag mich, ich bin böse, ich bin ein Nichts! Denn jedes geprügelte Kind schleppt diesen schmerzhaften Ausdruck von Verachtung, der durch einen schlagenden Vater, eine ohrfeigende Mutter ausgedrückt wird, mit sich herum. Unsicherheit, Vertrauensschwund, mangelndes Selbstbewusstsein, Depressionen und Verlustängste sind oftmals die langanhaltenden Folgeschäden der Misshandlungen, die diese Menschen als Kinder erlitten.
Andere haben sich trotzig aufgebäumt, nun erst recht gesagt, und sich einem anstrengenden bewegenden Leben mit der Haltung gestellt: Ich habe die Prügel als Kind überlebt, nun kann mir heute wirklich keiner mehr etwas anhaben! Manch einer befreite sich durch eine Therapie, durch eine besondere Erfahrung, manchmal auch durch das Erleben einer anderen, glücklicheren Kindheit der eigenen Söhne oder Töchter.
Als sich vor Jahren eine Frau bei mir meldete, um mir zu berichten, sie sei als Kind in diversen katholischen Kinderheimen misshandelt worden, reagierte ich ausgesprochen desinteressiert.Für mich war das irgendwie kein Thema. Jeder wusste doch, dass Nonnen prügelten, Lehrer »Tatzen« verteilten, Eltern Kinder ohrfeigten. Wo war da die News? Später, als die misshandelten Heimkinder für Schlagzeilen sorgten, ihnen Entschuldigungen und Wiedergutmachungen zugesprochen wurden, fragte ich mich: Wieso habe ich damals nicht reagiert? Ich hatte offenbar das Thema nicht gesehen. Wollte ich es nicht wahrhaben? War es für mich zu normal?
Insofern verdanke ich es in gewisser Weise dem Augsburger Bischof Walter Mixa, dass ich mich endlich mit Prügeln und Schlägen in der Kindheit meiner Generation
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