Tag der geschlossenen Tür
Ein weites steinernes Feld
I nmitten der Stadt liegt ein weites steinernes Feld. Der Boden ist geteert, an anderen Stellen gepflastert, Gullis und Laternen unterbrechen die ebene Fläche. Ein paar Autos parken dort und ein Laster. Eine Plastiktüte wird vom warmen Sommerwind über den Platz getrieben. Der Himmel leuchtet in einem milden Mittagsblau, die wenigen Wolken können die Sonnenstrahlen nicht aufhalten, sie treffen mich, während ich langsam über den Platz wandere, und laden mich auf mit Energie, mit Wärme und Mut. Ich atme tief durch und spüre, wie sich die Elemente des Lebens in mir vereinen. Luft und Licht. Ich erreiche die Mitte des Platzes, und da ich kein Ziel habe, bleibe ich unvermittelt stehen und schaue mich um. Weit reicht mein Blick, Hunderte von Metern vor mir begrenzen Bäume, Hecken und Straßen das Heiligengeistfeld. Ich drehe mich langsam um die eigene Achse, und auf einmal löst sich eine leere Blase in mir, ein Vakuum breitet sich aus, und jeglicher Bewegungsimpuls kommt mir abhanden. Wohin soll ich gehen, wenn ich doch überall hingehen könnte? Alle Ziele könnte ich ansteuern, Freunde, Läden, Orte, die mir etwas bedeuten oder meiner Bewegung eine Ordnung verleihen könnten, allein ich kann mich nicht entscheiden, jedes dieser Ziele wäre gleich gut, aber keines hebt sich unter den anderen hervor. Dieses Gefühl ist sehr unangenehm. Ratlos lasse ich mich auf den Boden sinken und warte. Gesichter von Freunden und Namen von Orten laufen durch meinen Geist, aber nichts tut sich, keiner meiner Gedanken nimmt eine klare Form an oder erscheint mir von großer Priorität. Mein Zustand nimmt eine zwanghafte Form an, ich will hier nicht sitzen bleiben, aber je mehr ich mich zu einer Entscheidung dränge, desto unmöglicher scheint sie mir. Sollte ich aufstehen und einfach aufs Geratewohl losmarschieren? Sollte ich der Tüte folgen, die in einigen Metern Entfernung kullernd an mir vorbeigetrieben wird? Diese Idee erscheint mir Anlass genug, ich raffe mich auf und folge der Tüte langsam mit etwas Abstand, damit anderen Menschen, die mich eventuell beobachten könnten, nicht auffällt, was ich hier treibe. Nach ein paar Metern bleibt die Tüte liegen, also bleibe ich ebenfalls stehen und schaue mich verschämt um. Wie kann man nur so planlos sein? Schuld baut sich in mir auf. Schuld wegen meiner Antriebslosigkeit, meiner Unentschlossenheit, meiner Ausgeliefertheit. Schuld wegen meiner Schwäche. Die Tüte treibt weiter, überschlägt sich, ändert die Richtung und bewegt sich nun in die entgegengesetzte Richtung voran. Ich drehe mich um und laufe wie zufällig vor ihr her. Sie biegt nach links ab, also bleibe ich stehen und trotte ihr schließlich hinterher. Der laue Sommerwind ändert immer wieder seine Richtung, und weder die Tüte noch ich kommen einer Seite des Platzes auch nur ein Stück näher. Vor mir lehnt eine zusammengesackte Gestalt an einem Altglascontainer und mustert mich reglos. Meine Scham wird größer. Alles, was ich tun könnte, wäre, zurück zur Platzmitte zu gehen und mich wieder zu setzen. Das ist allerdings noch schwächer, als der Tüte zu folgen, also setzt sich unser Tanz fort. Ein Stadtreinigungsfahrzeug kommt zäh mahlend und bürstend über den Platz gefahren. Ich bleibe stehen und schaue auf die Uhr. Der Fahrer kehrt alte Dosen, Plastikfetzen und Müll auf. Schließlich trifft er auf meine Tüte und wischt sie mit seinen Bürsten in den Bauch des Fahrzeugs. Der Fahrer beäugt mich im Vorbeifahren. Ich schaue verlegen auf meine Uhr, als gäbe es dort einen Halt. Was soll ich tun? Da die Tüte jetzt in dem Fahrzeug ist, könnte ich ihm ja folgen. Aber ich muss mich dazu entschließen, bevor es wegfährt. Langsam bewegt es sich zur Ausfahrt des Platzes, von wo ich gekommen bin. Ich folge dem Fahrzeug, und je näher ich dem Rand des Platzes komme, desto mehr Mut und Elan ergreifen mich. An der Ausfahrt löse ich mich von dem Fahrzeug und der Tüte darin und lasse mich erschöpft auf einen Poller sinken. Ich spüre: Ich bin befreit, der Bann ist gebrochen, jetzt kann ich mich wieder normal bewegen. Ich darf diesen verdammten Platz nie wieder betreten! Dieser Platz ist eine Falle. Dabei ist es doch ein so schöner Platz, ein so großer und freier Platz. Die Scham hält mich lange fest, jeder andere Mensch hätte diesen Platz mit einem gelösten Gefühl überqueren können, nur mir ist das nicht vergönnt. Ich spiele mit dem Gedanken, es doch noch mal zu versuchen,
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