Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
für ihr Gespräch. In wenigen Minuten würde der Wagen vor dem weißen Zweiparteienhaus im Hauges vei halten, und das Gespräch würde beendet sein.
»Du hast gesagt, du hättest nie den Verdacht gehabt, dass im Glads vei etwas nicht stimmen könnte«, sagte sie trotzdem. »Bis jetzt. Warum?«
»Ich hatte nie einen Grund dazu. Das habe ich jetzt wohl auch nicht.«
Sie hatte ihn verloren. An der Kreuzung vor der Nordpol-Schule hielten sie an einer roten Ampel.
»Du kannst natürlich mit diesem Unsinn weitermachen«, sagte Inger Johanne. »Aber das wäre dumm von dir. Unbeschreiblich dumm.«
Es wurde grün, aber er starrte sie so lange verdutzt an, dass der Wagen hinter ihnen hupte. Joachim schaltete ungeschickt in den ersten Gang und würgte den Motor ab.
»Verdammt«, flüsterte er und versuchte es erneut.
Das Auto machte einen Sprung nach vorn, dann starb der Motor wieder ab.
»Ganz neuer Wagen, wie ich sehe.« Inger Johanne lächelte und fügte hinzu: »Zu diesem Fahrstil passt er eigentlich nicht so ganz. Bist du eher Automatik gewohnt?«
»Nein«, fauchte er durch zusammengebissene Zähne und konnte den Motor endlich wieder zum Leben erwecken.
Die Reifen kreischten über den Asphalt, als sie über die Kreuzung schossen.
»Was meinst du eigentlich mit dumm?«, fragte er.
»Du vergisst, warum du mir die SMS geschickt hast. Ich habe einige Erfahrung als eine Art ... Ermittlerin. Im Netz findest du auch mehrere Artikel, in denen ziemlich klar gesagt wird, dass ich eine Vergangenheit beim FBI habe. In manchen werde ich als ›Profilerin‹ bezeichnet. Das ist eine sinnlose und unklare Bezeichnung, aber trotzdem nicht ganz falsch.«
Sie lächelte und wusste, dass er das registrierte, obwohl er die ganze Zeit nach vorn auf die Straße starrte. Dennoch wären sie fast mit einem Bus zusammengestoßen.
»Ich kann das Verhalten von anderen also ganz gut deuten«, sagte sie. »Und im Moment deute ich deins.«
Er sagte nichts, wartete aber offenbar darauf, dass sie weiterredete.
»Tatsache Nummer eins«, sagte sie und zählte an den Fingern ab. »Ich soll untersuchen, unter welchen Umständen Sander gestorben ist, aber ich sollte nicht wissen, dass die Aufforderung von dir kam. Tatsache Nummer zwei: Du hattest nichts dagegen, von mir in meine Untersuchungen hineingezogen zu werden. Im Gegenteil, als ich dich heute Morgen angerufen habe, wolltest du dich unbedingt noch heute mit mir treffen. Tatsache Nummer drei oder jedenfalls etwas, das ich bis auf Weiteres als Tatsache betrachten werde: Du hattest Sander sehr gern und hast dich ungewöhnlich gut mit ihm verstanden.«
Bei der Brücke über den Akerselv in der Kristoffer Aamots gate hatte ein Müllwagen einen Motorschaden und versperrte die Fahrbahn nach Westen. Der Gegenverkehr floss ihnen als stetiger Strom entgegen. Sie steckten fest.
»Tatsache Nummer vier«, sagte Inger Johanne und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf den linken Ringfinger. »Du wolltest mir eben etwas Besorgniserregendes über Sanders Leben erzählen, aber dann hast du plötzlich Angst bekommen.«
»Verdammt noch mal«, sagte Joachim wütend und drückte auf die Hupe.
Der Fahrer des Müllwagens stand nur zwei Meter von dem schwarzem BMW entfernt und schüttelte angesichts dieser Ungeduld den Kopf. Er rief etwas, das Inger Johanne nicht verstehen konnte.
»Viel mehr Tatsachen habe ich nicht«, sagte sie. »Aber soll ich dir erzählen, wie ich sie deute?«
Joachim hatte das Fenster heruntergekurbelt und lehnte sich, so weit er konnte, hinaus. Ohne zu antworten, riss er das Lenkrad herum und trat das Gaspedal durch. Der Müllmann fuhr zurück, als der BMW zur Seite und an seinem Wagen vorbeischoss. »Wankelmütigkeit«, sagte Inger Johanne, als wäre nichts passiert. »Wenn man sich so gespalten fühlt wie du, dann, weil man das Gefühl hat, dass es bei jeder Möglichkeit etwas zu verlieren und etwas zu gewinnen gibt. Du möchtest, dass ich mir genauer ansehe, unter welchen Umständen Sander gestorben ist, aber es soll nicht auf deine Initiative hin geschehen. Du willst mir von Bedenken erzählen, die dir nach Sanders Tod gekommen sind, aber am Ende traust du dich dann doch nicht. Weil du selbst etwas zu verbergen hast. Eigentlich möchtest du mit der ganzen Sache nichts zu tun haben.«
Sie näherten sich dem Maridalsvei. Zum Glück war auch hier dichter Verkehr, und sie kamen nur im Schneckentempo voran.
»Davon hast du keine Ahnung«, sagte Joachim leise.
Inger Johanne
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