Schattenkrieg
Funkkladde hin.
Zwei Worte waren darauf zu lesen:
NOTRUF – STATFJORD C
Viktor fiel die Kinnlade nach unten. Unmöglich! Er versuchte, im Blick seines Stellvertreters irgendwelche Ironie zu entdecken, ein Anzeichen darauf, dass der Mann einen Scherz machen wollte. Ha, er würde ihm das Fell über die Ohren ziehen … Doch er musste bestürzt feststellen, dass in der Miene des Mannes keine Spur davon zu erkennen war.
»Kursänderung!«, befahl er. »Neues Ziel: Statfjord-3! Wir fahren einen so direkten Kurs wie irgend möglich!« Dann griff er nach dem Bordsprechgerät und wählte den Maschinenraum. »Maschinen: zwei Mal Volle Kraft voraus!«
Er sank nachdenklich in seinen Sessel. Das ständige Rollen war in Vergessenheit geraten. Sein Seenotkreuzer war für Schiffsbesatzungen ausgelegt, nicht für die komplette Crew einer Bohrinsel. Wie viele Männer über dem Höchstlimit er wohl aufnehmen konnte? Und vor allem: Wie sollte er bei diesem Mistwetter, bei diesem Seegang überhaupt irgendjemanden retten?
»Zentrale, kann es sein, dass der Sturm schlimmer wird?«, fragte Lars nach oben. »Wir spüren die Seebewegung bis hier herunter!« Entweder es gab hier seit neuestem eine Strömung, die vorher noch niemand entdeckt hatte, oder das Meer war wegen irgendetwas sauer.
Ziemlich
sauer.
»#Sturm, Lars?#«, fragte die Stimme Eriks. »#Sturm ist gar kein Ausdruck! Sieht so aus, als ob Poseidon persönlich auf einen Besuch vorbeischauen wollte! Wenn wir nicht solche Probleme mit unserer Statik hätten, wär’s ein tolles Schauspiel. Aber solange wir das nicht in den Griff kriegen …#«
»#Könnte der Sturm die Station aus der Verankerung reißen?#«, fragte Sven, seine Stimme durch das Funkgerät genauso entrücktwie die Eriks oben im Kontrollraum, obwohl er keinen Meter weit von Lars entfernt war.
Nachdem sie gerade festgestellt hatten, dass auch die Standsäule 2 ausgegraben war, fand Lars diese Überlegung gar nicht so abwegig – ein Sturm und zwei lose Säulen konnten nicht gut sein für die Statik einer Bohrinsel. In der Geschichte der norwegischen Ölförderung waren bereits zwei Bohrplattformen ausgerissen worden, die
Bravo
und die
Alexander Kielland
…
Er war dennoch erschüttert, als Erik Svens Frage bejahte: »# Wenn wir viel Pech haben … Ein Seenotkreuzer ist jedenfalls unterwegs. Ich hoffe trotzdem, dass ihr beiden vielleicht herausfinden könnt, was da unten eigentlich passiert ist! Vielleicht können wir so das Schlimmste vermeiden.#«
»# Verstanden!#«, bestätigte Sven.
Lars war in seinem Taucheranzug schweißgebadet vor Angst. Vor allem nun, da sie zu Standsäule 3 unterwegs waren, wo dieser Bjørn aus der letzten Schicht seine grausige Entdeckung gemacht hatte – und wo er zusammen mit seinem Gefährten verschwunden war. Er wusste, dass es Sven nicht anders erging. Als sie für ein paar Minuten allein gewesen waren, während sie ihre Anzüge angelegt hatten, hatte Sven davon gesprochen, den Tauchgang zu verweigern. Lars hätte ihm gerne zugestimmt … doch es war klar, dass sie das nicht nur die Anstellung gekostet hätte. Die Company hätte schon dafür gesorgt, dass sie in ganz Norwegen keinen Job mehr als Taucher bekommen würden.
So waren sie den Weg des vermeintlich kleineren Übels gegangen – auch wenn Lars diese Entscheidung nun bereute.
Immerhin waren sie komplett ausgerüstet. Erik hatte dafür gesorgt, dass trotz der Personalkürzungen unter den Tauchern alle sechs Tauchschlitten der Station weiter gewartet worden waren. So konnten sich Lars und Sven von den Fahrzeugen ziehen lassen und sich ihre Kraft sparen.
Für was eigentlich?
fragte sich Lars mit wachsender Furcht – und die Leute in der Zentrale bekamen Bilder der Schlittenkameras.
Wir sind zu ihrem ganz privaten Fernsehprogramm geworden,
dachte er bitter.
Ein Thriller in noch nie da gewesener Realitätsnähe! Happy End nicht zwingend vorgesehen …
Schweigend tauchten sie weiter durch die Finsternis. Das Seebett war übersät mit Felsentrümmern, die aus den Bohrlöchern der Standbeine gebrochen waren. Darüber stand eine etwa einen Meter starke Schicht aus feinem Sand, der vom unterseeischen Seegang hin- und hergetrieben wurde. Lars fragte sich, wie sie mit all dem aufgewirbelten Schmutz etwas in diesem Loch von Standbein 3 entdecken sollten. Eines war jedoch klar: Wenn irgendjemand von ihm verlangen würde, das Tauchgerät vom Rücken zu nehmen und in dieses Loch zu kriechen, würde er kündigen, sofort und
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