Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
griff nach ihrem Arm. Sie schlug seine Hand beiseite. »Ich gehe nicht ohne ihn!«, schrie sie die verschwommene Gestalt an. In ihren Gedanken sah sie Milt mit ausgestreckten Armen nach ihr suchen, vielleicht zwei oder drei Meter entfernt.
»Milt!«, schrie sie erneut und hustete, als Sand in ihrer Kehle stach. Erneut spürte sie Finns Finger auf ihrem Arm, noch einmal riss sie sich los. Als sie sich das nächste Mal umdrehte, sah sie nur noch Sand.
Das Heulen des Sturms übertönte jeden Gedanken, den Laura zu fassen versuchte. Mal ging sie bergauf, dann wieder bergab, ab und zu glaubte sie Gestalten im Sand zu entdecken, aber wenn sie ein zweites Mal hinsah, waren sie stets verschwunden. Sie legte einen Arm vor Nase und Augen, um sich zu schützen, den anderen streckte sie aus, obwohl sie glaubte, der Sand würde ihr die Haut abschmirgeln. Eine plötzliche, von der Seite kommende Windböe warf sie von den Füßen, eine zweite drückte sie gegen den Fels. Es fühlte sich an, als ramme jemand sein Knie in ihren Rücken. Laura versuchte, wieder hochzukommen, doch der Druck ließ nicht nach. Sand türmte sich vor ihrem Gesicht auf. Sie schlug danach, doch der Sturm trieb ihr den Sand wieder entgegen, warf ihn auf ihr Gesicht.
Er will mich umbringen.
Die Erkenntnis gab ihr neue Kraft. Laura bäumte sich auf, schleuderte den Druck von ihrem Rücken und kam auf die Knie. Wie mit Fäusten schlug der Wind nach ihr, aber sie kämpfte gegen den Schmerz und richtete sich auf. Der Wind ließ so plötzlich nach, dass Laura stolperte und beinahe gestürzt wäre. Sie hustete und keuchte, spuckte Sand aus und rieb sich die Augen.
»Milt!«, schrie sie dann. Das Kratzen in ihrem Hals ließ sie erneut husten. »Finn!«
Etwas berührte ihre Schulter. Erschrocken fuhr Laura herum - und sah in ein fremdes Gesicht.
Der Name des Mannes war Bron. Er legte seinen Umhang um Laura und stützte sie mit einer Hand am Ellenbogen. Sie war froh darüber. Ihre Beine zitterten, sie hatte entsetzlichen Durst und war so erschöpft, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, als Bron losgehen wollte.
»Ich bin mit zwei Freunden hier«, sagte sie. Ihre Stimme klang schwach und kratzend wie die einer alten Frau. »Wir können nicht ohne sie gehen.«
»Andere kümmern sich um sie. Ihnen wird nichts geschehen.«
Seine Ruhe übertrug sich auf Laura. »Wo gehen wir hin?«
»In mein Dorf. Es ist nicht weit.«
Sie hatte erwartet, dass er sich umdrehen würde, um bergauf zum Eingang des Tals zu gehen, aber er führte sie bergab, tiefer in das Tal hinein.
»Da unten gibt es kein Dorf.«
Bron lächelte. Er hatte ein faltiges, wettergegerbtes Gesicht und die Augen einer Katze. »Du hast nur nicht gut genug hingeschaut.«
Laura widersprach ihm nicht. Seit sie in Innistìr angekommen war, hatte sie so viele seltsame Dinge gesehen, dass sie ein unsichtbares Dorf nicht ausschließen konnte. Schließlich schützten sich die Iolair ja auch durch Zauber vor den Augen ungebetener Besucher.
Der Wind heulte immer noch, aber er hatte nicht mehr die Kraft, Laura von den Füßen zu reißen, und brachte auch nicht mehr so viel Sand mit sich wie zuvor. Nach und nach wurde die Landschaft klarer. Laura sah den grauen Fels vor sich und am Himmel die verwaschene, schwach gelbe Scheibe der Sonne.
»Und wo genau ist dein Dorf?«, fragte sie.
»Hier.«
Im gleichen Moment wurde es hell. Die Sonne stand im Zenit eines tiefblauen Himmels, über den kleine weiße Wolken zogen. Laura sah eine Handvoll Hütten, keine ärmlichen Verschläge, sondern mit steinernem Fundament errichtete Blockhütten, neben denen Gemüse und Kräuter in kleinen Gärten wuchsen. Auf einer kleinen, eingezäunten Weide standen Ziegen, Hühner pickten im Dreck nach Würmern, und vor einer der Hütten saßen zwei Frauen in der Sonne und nähten.
Laura blinzelte. Sie spürte weiche Erde unter ihren Füßen und warme Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht.
»Mein Dorf«, sagte Bron.
Sie drehte sich um. Die Erde, auf der sie stand, endete unmittelbar hinter ihr; sie konnte die Linie, die sie zog, bis zu den Hütten verfolgen. Es sah aus, als habe man das Dorf ausgeschnitten und mitten in das kahle Tal gesetzt.
Laura machte einen Schritt in das Tal hinaus. Das Dorf verschwand so schnell wie ein Herzschlag. Die Luft wurde trüb, die Sonne verlor ihre Wärme. Laura trat vor und stand wieder in dem hellen, sommerlichen Dorf. Bron lachte, die beiden Frauen
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