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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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dem Bett auf einigen Kissen hockte. Ihr Gesicht war hinter dem dünnen, dunklen Stoff kaum zu erkennen, aber sie war sich sicher, dass die Frau jung war. Sie trug ein helles, besticktes Gewand, das neuer und kostbarer als alles andere im Dorf aussah, und war barfuß. Auf den Stühlen saßen vier Männer, die sich umdrehten, als Laura und die anderen die Hütte betraten und sie neugierig anblickten. Bron nahm neben einem von ihnen Platz.
    Doch es waren weder die Männer noch die Frau, die Lauras Aufmerksamkeit fesselten, sondern die Gestalt auf dem Bett.
    Es war ein Mann, der dort unter Fellen und Decken lag, ein vertrockneter, ausgedörrter, ledriger Körper mit einem Gesicht aus tausend Falten und einem haarlosen, von Altersflecken übersäten Kopf. Im ersten Moment hielt Laura ihn für eine Mumie, doch dann hörte sie den leise rasselnden Atem und erkannte beinahe entsetzt, dass der Mann lebte. Seine Augen waren weit geöffnet, doch sie starrten die Decke an, schienen nichts von dem zu sehen, was in der Hütte geschah.
    »Mein Name ist Harlenn«, sagte die Frau. »Stellt euch vor und erklärt, wieso ihr in dieses Tal gekommen seid.«
    Laura wollte ihr antworten, doch dann erinnerte sie sich an Nidis Worte und richtete den Blick auf den Mann auf dem Bett. Sie nannte ihre Namen und bedankte sich für die Rettung. »Wir sind nur auf der Durchreise«, sagte sie dann, während die Frau in eine Schüssel griff, die neben ihr stand, und Harlenn ein wenig Wasser auf die trockenen Lippen träufelte. »Der Sturm hat uns überrascht.«
    »Und wohin sollte euch eure Reise führen?«
    »In die Gläserne Stadt.«
    Die Frau lauschte einen Moment, so als spräche jemand unhörbar zu ihr, dann sagte sie: »Ich kenne keinen solchen Ort. Seid ihr sicher, dass ihr auf dem richtigen Weg seid?«
    »Ja.« Laura fügte keine Erklärung hinzu. Die Menschen hatten sie gerettet, doch das hieß nicht, dass man ihnen trauen konnte.
    Sie spürte den Blick der Frau und fragte sich, ob es wirklich ihrer war oder ob Harlenn auf irgendeine Weise durch sie sah und sprach.
    »Dann hoffe ich«, sagte die Frau, »dass euer Ziel nicht von großer Bedeutung ist und dass ihr nichts zurückgelassen habt, was euch wichtig ist, denn eure Reise endet hier.«
    »Was?« Milt und Laura sahen sich an. Finn fuhr herum, als befürchte er, Feinde könnten in seinem Rücken aufgetaucht sein. Doch die Tür stand weit offen, und auch die Männer blieben auf ihren Stühlen sitzen. Niemand griff sie an.
    »Was soll das heißen?«, fragte Milt.
    Die Frau träufelte Wasser in Harlenns geöffnete, starre Augen. Er blinzelte nicht. Wassertropfen liefen über seine Wangen wie Tränen. »Lasst mich euch unsere Geschichte erzählen.« Mit einer Hand deutete die Frau auf die leeren Stühle.
    Laura schüttelte den Kopf. Sie war zu angespannt, um sich hinsetzen zu wollen. Auch Milt und Finn blieben stehen. Nidi kletterte an einem der leeren Stühle nach oben und hockte sich auf die Lehne.
    »Wir sind vor langer, langer Zeit aus dem Süden hierhergekommen«, fuhr die Frau fort. »Damals gab es hier kein Tal und keine Felsen, nur Wald und fruchtbares offenes Land. Wir bauten ein Dorf, Häuser für uns, Weiden für das Vieh und Felder für die Samenkörner, die wir mitgebracht hatten. Wir lebten einfach, aber gut. Doch dann kam der Wind.«
    Die Frau - oder war es Harlenn? - brach ab. Der Schleier bewegte sich bei jedem Atemzug, ihre Schultern hoben und senkten sich.
    Bron drehte sich um. »Er ist es nicht gewohnt, so lang zu sprechen. Es strengt ihn an.« Er wandte sich an die Gestalt auf dem Bett. »Wenn du es erlaubst, werde ich die Geschichte zu Ende erzählen, damit du dich schonen kannst.«
    »Ich erlaube es nicht«, sagte die Frau. Bron sah sie nicht an, nur Harlenn. »Ich habe die Geschichte begonnen, ich werde sie beenden.«
    Laura hatte den Eindruck, dass mehr damit gemeint war als die Erzählung.
    »Ja, Harlenn. Verzeih.« Bron senkte den Kopf.
    Die Frau ignorierte ihn. »Der Wind kam in einer Nacht. Er wütete in unserem Dorf, zerstörte Häuser und Ställe, riss das Getreide aus dem Boden, nahm uns alles, wofür wir so hart gearbeitet hatten. Wir versteckten uns unter unseren Betten und beteten, dass er bald weiterziehen würde, aber das tat er nicht. Er blieb.«
    »Warum?«, fragte Finn.
    Einer der Männer drehte den Kopf und sah ihn missbilligend an, so als gehöre es sich nicht, Zwischenfragen zu stellen, wenn Harlenn sprach.
    Die Frau hob die Schultern. »Wenn wir das

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