Schattennächte: Thriller (German Edition)
hinunter.
Als sie es endlich wieder wagte, ihre Beine zu bewegen, fühlten sie sich an wie aus Gummi. Am liebsten wäre sie zu ihrem Auto gerannt, aber sie wusste, dass das nicht klug war. Damit würde sie nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem würden mit ziemlicher Sicherheit ihre Beine unter ihr nachgeben.
Sie zwang sich dazu, langsam zur Straße zurückzugehen. Sie zwang sich dazu, sie zu überqueren, mit gesenktem Kopf, die Handtasche an den Körper gepresst.
Sie saß kaum, als sie sich durch die offene Tür übergeben musste. Als die Übelkeit schließlich nachließ, sank sie erschöpft zurück und fragte sich, was, zum Teufel, sie da eigentlich tat. Doch noch während sie sich diese Frage stellte, musste sie wieder an den Schuppen denken und daran, was sich möglicherweise darin verbarg. Sie wollte es wissen. Sie wollte hineingehen und nachsehen. Sie wollte ins Haus und seine Sachen durchwühlen in der Hoffnung, irgendeinen Beweis zu finden … wofür? Dafür, dass ihre Tochter am Leben war? Dass sie tot war?
Sie erinnerte sich an den Bericht über eine Frau in Nordkalifornien, die 1977 von einem Paar entführt und bis zu ihrer Flucht 1984 als Sexsklavin gehalten worden war. Im ersten Jahr ihrer Gefangenschaft war sie dreiundzwanzig Stunden am Tag in einer Holzkiste unter dem Wasserbett der beiden eingesperrt gewesen.
Lauren blickte über die Straße zu Ballencoas Haus und fragte sich, ob ihre Tochter vielleicht da drin war, in einer Kiste unter seinem Bett.
Deshalb war sie hier. Deshalb nahm sie das Risiko auf sich. Das Gesetz mochte es den Strafverfolgungsbehörden untersagen, Ballencoas Haus zu betreten, aber Lauren scherte sich einen Dreck um das Gesetz. Sie scherte sich nicht um unzulässige Durchsuchungen oder Beweisregeln. Das Einzige, was für sie zählte, war ihre Tochter.
Noch während sie das Haus anstarrte, öffnete sich die Tür, und Ballencoa trat heraus. Er kam die Treppe herunter und ging zur Garage. Kurz darauf stieß er mit seinem Kastenwagen rückwärts auf die Straße und fuhr davon.
22
Auch wenn Roland nachts arbeitete, war das Frühstück seine liebste Mahlzeit. Oft blieb er die ganze Nacht auf und ging erst noch frühstücken, bevor er sich zu Hause ins Bett legte, um den Vormittag zu verschlafen.
Auf der La Quinta hatte er einen Diner entdeckt, der ihm gefiel. Ein richtiger Diner, so wie früher, in dem es Bänke mit roten Vinylbezügen und Tische mit Chrombeinen und Kellnerinnen in billigen rosa-weißen Uniformen gab. Die Uniformen gefielen ihm auch.
Die Gäste stellten eine interessante Mischung dar. Natürlich kamen Studenten zum Essen her – den Collegestudenten entkam man in Oak Knoll einfach nicht, nicht einmal im Sommer –, aber auch alle möglichen anderen Leute. Das Krankenhaus lag nur ein paar Straßen entfernt, und das hieß, dass viele Krankenschwestern zum Mittagessen oder nach Schichtende kamen. Er mochte Krankenschwestern. Junge Krankenschwestern.
In diesem Moment saß ein Grüppchen von ihnen an einem Tisch schräg gegenüber, sie unterhielten sich, lachten, aßen ihr Rührei. Sie kamen von der Nachtschicht und würden in Kürze nach Hause fahren. Er fand es enttäuschend, dass heutzutage nur noch wenige Krankenschwestern eine weiße Uniform trugen. Ihm gefiel die Vorstellung, die Knöpfe an einem engen weißen Schwesternkleid zu öffnen. Ihm gefiel die Vorstellung, mit der Hand unter den Rock zu greifen. Das war inzwischen leider nur noch ein schöner Tagtraum, denn der Trend ging zu bunten weiten Kitteln.
Die meisten der Krankenschwestern am Nachbartisch waren für seinen Geschmack zu alt, eine von ihnen war jedoch jung und niedlich. Er würde ihr nach Hause folgen und sich notieren, wo sie wohnte, ob sie allein wohnte, ob sie einen kläffenden Hund hatte. Hunde mochte er nicht.
Das Schöne an diesem Diner war, dass er nach dem Frühstück noch endlos sitzen bleiben, sich Kaffee nachschenken lassen und Notizen machen konnte. Niemand störte ihn. Niemand kümmerte sich darum, was er tat. Er brachte sogar seinen Zeichenblock mit, um Skizzen von den Gästen anzufertigen – wobei sein Interesse natürlich den jungen Frauen galt, aber er wusste, dass sich niemand etwas dabei denken würde, wenn er daneben auch hässliche alte Frauen und Männer zeichnete.
Rasch fertigte er eine alberne Karikatur von den Schwestern an, für die er ihnen allesamt große blitzende Augen und eine lebhafte Mimik verpasste. Als er fertig war, ging er damit hinüber an
Weitere Kostenlose Bücher