Schattennächte: Thriller (German Edition)
verloren hatte. Wenn er klüger gehandelt hätte … wenn er nicht darauf bestanden hätte, dass sie an diesem Abend mitkam … wenn er vorher strenger mit ihr gewesen wäre … wenn er verständnisvoller gewesen wäre …
Er verteufelte sich für jede Kleinigkeit, bestrafte sich mit der Gewalt eines alttestamentarischen Gottes. Und am Schluss sprach er das Urteil über sich, nachdem es nicht in seiner Macht stand, das Urteil über den Mann zu sprechen, der ihm sein Kind geraubt hatte.
Am härtesten traf es ihn, dass er durch die Öffentlichkeit, die Presse und die Polizei selbst in Verdacht geriet. Er wäre für seine beiden Töchter bereitwillig in den Tod gegangen. Dass die Leute etwas anderes von ihm denken könnten, gärte in ihm und fraß ihn auf.
Und die Polizei – die Roland Ballencoa gegenüber völlig machtlos war – hatte Lance mit der Lässigkeit eines Scharfschützen an der Schießbude aufs Korn genommen. Weil er kooperieren wollte, musste er stundenlange Befragungen und Verhöre über sich ergehen lassen. Er machte einen Lügendetektortest nach dem anderen. Er ertrug jede Demütigung und jeden Vorwurf, den man gegen ihn erhob.
Er hatte mit seiner Tochter in der Öffentlichkeit gestritten. Er war als jähzornig bekannt. Es gab Lücken in seinem Tagesablauf an diesem Tag, kurze Zeiten, für die er kein Alibi hatte. Er wäre nicht der erste Vater einer pubertierenden Tochter gewesen, der die Nerven verlor.
Was, wenn er sie an diesem Tag auf der Straße gesehen hatte, wie sie von dem Softballspiel nach Hause radelte, dessen Besuch ihr verboten worden war? Vielleicht hatte er angehalten und sie gepackt. Vielleicht hatte er sie in seiner Wut geschüttelt oder gestoßen. Vielleicht war sie irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen und gestorben. Vielleicht war er in Panik geraten. Vielleicht war er in Panik geraten und hatte sie umgebracht und war dann doch geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich ihres Leichnams so gründlich zu entledigen, dass er nie mehr auftauchte.
Nicht ein einziges Mal, nicht eine Sekunde habe ich geglaubt, dass Lance seiner Tochter etwas angetan haben könnte. Auch nicht, als die Detectives alles dazu taten, einen Keil zwischen uns zu treiben und Zweifel zu säen. Nicht einmal als die Leute, die Lance besser hätten kennen sollen, anfingen zu zweifeln. Eher hätte ich zu atmen aufgehört, als den Glauben an seine Unschuld zu verlieren.
Der Tod meines Ehemanns wurde als Unfall behandelt, eine weitere Zahl für die Statistik tödlicher Verkehrsunfälle durch den Einfluss von Alkohol. Die Hälfte der Leute, die ihn des Mordes verdächtigt hatten, hielt seinen Tod für Karma. Die andere Hälfte machte eine Kehrtwende und betrauerte ihn als den armen leidenden Vater, der das Leben ohne sein erstgeborenes Kind nicht ertrug.
Sein Tod wurde als Unfall behandelt. Ich wusste es besser. Alle wussten es besser. Es lag auf der Hand. Er war willentlich in den Tod gefahren, mit einer Polizeieskorte, metaphorisch gesprochen. Er hatte es einfach nicht mehr ertragen – die Trauer, die Schuld, den Verdacht, das Nichtwissen, die schreckliche Vorstellung, was mit Leslie passiert sein könnte.
Ich habe ihm nicht vergeben, was er an diesem Abend auf der Brücke über den Cold Spring Canyon tat, und ich werde es ihm auch nie vergeben. Aber warum er es tat, das verstehe ich besser als irgendjemand sonst. Viele Nächte habe ich ihn um den Frieden, den er im Tod fand, beneidet und ihn verflucht, weil er die Last des Lebens und Weiterlebens einfach mir aufgebürdet hat.
Und doch habe ich ihn sehr geliebt und tue es noch. Sein Tod hat meinem Herzen eine Wunde zugefügt, die jeden einzelnen Tag und jede einzelne Nacht schmerzt. Wir hätten diesen Weg gemeinsam gehen sollen, Hand in Hand und Seite an Seite. Ohne ihn fehlt mir eine Hälfte, habe ich keinen Anker.
Meine Sehnsucht nach ihm ist unstillbar und unvergänglich.
Ich kann mir nicht vorstellen, jemals den Tag zu erleben, an dem ein anderer Mann dieselben Gefühle wie er in mir weckt. Die Freundin, die uns miteinander bekannt gemacht hatte, sagte immer, dass Lance und ich ein Gespräch aufgriffen, das wir in einem anderen Leben unterbrochen hatten. Ich weiß, es wird ein weiteres Leben dauern, bis ich so etwas wieder erlebe.
Lauren speicherte das Geschriebene ab und stand auf. Sie fühlte sich gespenstisch leer, so als könnte man mit der Hand durch sie hindurchgreifen und würde keinen Widerstand spüren. Es war nichts mehr übrig, nicht einmal
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