Schattennächte: Thriller (German Edition)
sie sich immer wieder schwor, etwas daran zu ändern, verschob sie es jeden Abend auf den nächsten, ihre Erschöpfung als Vorwand anführend.
Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn, sagte, sie solle schlafen, und hoffte, dass Anne Leone unrecht hatte.
Im Flur ging sie zu dem Fenster, das zur Einfahrt blickte, und eine Gänsehaut überlief sie bei dem Gedanken an die gestrige Nacht. Er war da draußen gewesen und hatte zu ihr hereingesehen. Heute Abend hatte sie zweimal einen Streifenwagen bemerkt, der vor ihrem Haus wendete. Das hatte wahrscheinlich Detective Mendez veranlasst.
Sie ging nach unten und sah noch einmal in jedes Zimmer, überprüfte die Schlösser an Türen und Fenstern, bevor sie in die Küche ging, um sich eine Tasse Tee zu machen. Dabei fiel ihr Anne wieder ein. Sie mochte Annes nüchterne und dennoch mitfühlende Art. Sie fragte sich, ob Anne Leah vielleicht helfen konnte, über den Verlust von Schwester und Vater hinwegzukommen. Sie selbst konnte niemandem helfen, das wusste sie. Wenn sie Leah helfen wollte, war das so, als würde man einen Nichtschwimmer ins Meer schicken, um jemanden vor dem Ertrinken zu retten. Der Blinde, der den Blinden führt, wie Anne gesagt hatte.
Sie dachte an die kleine Haley Leone, die einzige Zeugin eines entsetzlichen Verbrechens – der Mord an ihrer Mutter vor ihren Augen. Anne und ihr Mann hatten dem Kind Stabilität, Sicherheit, Schutz gegeben. Lauren fühlte sich nicht imstande, ihrer eigenen Tochter etwas Ähnliches zu geben – oder auch sich selbst.
Sie fragte sich, was Leah von einem Gespräch mit Anne halten würde.
Lauren kauerte sich mit angezogenen Knien in eine Ecke des Sofas, vor sich den gemauerten Kamin, und trank ihren Tee. Sie dachte daran, wie Leah gewesen war, bevor all das geschah – Leah als kleines Mädchen im Alter von Haley und etwas später –, und ihr wurde klar, dass sie nicht recht hatte, wenn sie meinte, dass ihre Tochter nicht über ihre Gefühle sprach.
Sie erinnerte sich an lange, schöne Gespräche mit Leah über die verschiedensten Dinge – ihre Begeisterung für Schmetterlinge und ihre Zuneigung zu Kindern, die anders oder seltsam waren, ihr Gerechtigkeitsempfinden, ihre völlig ernst gemeinte Sorge, dass ihre Lieblingspuppen traurig sein könnten, wenn sie zu alt war, um noch mit ihnen zu spielen.
Nein, dachte Lauren, Leah war kein Kind, das sich verschloss, sie war einfach ein junges Mädchen, das die Zerbrechlichkeit seiner Mutter allzu stark spürte. Sie war eine schüchterne jüngere Schwester, die im Schatten der älteren stand, weil diese selbst in ihrer Abwesenheit eine dominierende, alles überstrahlende Persönlichkeit war.
Was für eine erbärmliche Mutter du doch bist , Lauren .
Rache zu nehmen für die Tochter, die nicht da war, interessierte sie mehr, als der Tochter, die da war, eine gute Mutter zu sein.
Sie würde mit Anne sprechen.
Sie stellte den Becher auf den Tisch, nahm den Stapel mit der Post des heutigen Tages und fing an, sie durchzusehen. Rechnungen und Werbung. Die Einladung zu einer Mitgliedschaft in einem Fitnesscenter. Eine Broschüre mit den Terminen aller Veranstaltungen des bevorstehenden Musikfestivals.
Es kam ihr seltsam vor, dass die Erde sich, ungeachtet der Katastrophen, die ihre Bewohner durchlebten, weiterdrehte, genauso wie sich Wasser einfach um die Felsbrocken in einem Flussbett herum teilt und weiterfließt. Das Leben ging weiter, egal ob es einem gefiel oder nicht.
Das Musikfestival würde wie geplant stattfinden, und keiner würde sich darum kümmern, dass Roland Ballencoa mitten unter ihnen lebte, oder dass Lauren mit dem Wunsch rang, etwas dagegen zu unternehmen.
Sie legte die Broschüre beiseite und nahm den nächsten Brief zur Hand, einen schlichten weißen Umschlag, auf dem weder eine Adresse stand noch eine Briefmarke klebte.
Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Keine Adresse, keine Briefmarke.
Eine Gänsehaut überlief sie.
Die Lasche des Umschlags war nur an der Spitze zugeklebt. Sie riss sie mit dem Daumen auf, zog die Karte heraus und las die einzelne Zeile.
Hast du mich vermisst?
29
Mendez bewohnte ein kleines Haus im spanischen Stil, nur anderthalb Kilometer Luftlinie von Roland Ballencoas Haus entfernt. Ein ruhiges Viertel, das in den Vierzigern und Fünfzigern errichtet worden war. In der Nachbarschaft wohnten vor allem junge Familien und Ehepaare, deren Kinder schon ausgezogen waren. Er kannte die meisten mit Namen.
Er hatte das Haus –
Weitere Kostenlose Bücher