Der Skorpion
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Prolog
Bitterroot Mountains, Montana
November
E
r wird dich umbringen.
Er bringt dich um, hier, mitten in diesem schneebedeckten gottverlassenen Tal! Du musst kämpfen, Mandy, kämpfen!
Mandy Ito mühte sich ab, wehrte sich gegen die Stricke, die in ihr nacktes Fleisch schnitten, und spürte dabei den beißend kalten, arktischen Wind, der um die Gebirgsketten des Areals heulte.
Sie war allein. Allein mit dem Psychopathen, der sie entführt hatte.
Himmel, wieso hatte sie ihm vertraut?
Wie um alles in der Welt hatte sie ihn für ihren Retter halten können? Dessen Aufgabe es gewesen wäre, sie gesund zu pflegen, bis der Schneesturm vorüber war, um dann Hilfe zu holen oder sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen.
Hatte sie sich von seiner ernsthaften Besorgnis, als er ihr Autowrack fand, einlullen lassen? Waren es diese unglaublich blauen Augen? Sein Lächeln? Seine sanften, beschwichtigenden Worte? Oder lag es daran, dass sie keine Wahl gehabt hatte, weil sie ohne seine Hilfe zweifellos in dieser tiefen, unzugänglichen Schlucht den Tod gefunden hätte?
Warum auch immer, sie hatte ihm geglaubt, hatte ihm vertraut.
Närrin! Idiotin!
Er hatte sich als ihr schrecklichster Alptraum entpuppt, als grausamer Wolf im Schafspelz, und jetzt, o Gott, jetzt musste sie dafür bezahlen.
Zitternd, nur noch beherrscht von dem einen Gedanken, sterben zu müssen, stand sie nackt an einen Baum gebunden. Das dicke Seil schnitt in ihre bloßen Arme und ihren Körper, ihr Mund war so fest zugeklebt, dass sie kaum atmen konnte.
Und er war ganz in ihrer Nähe. So nahe, dass sie spürte, wie sein warmer Atem um den Stamm der kräftigen Kiefer herumstrich, dass sie ihn ächzen hörte, während er all seine Kraft daransetzte, sie zu fesseln. Sie sah aus den Augenwinkeln seine weißen Neopren-Skihosen und den Parka aufblitzen.
Noch einmal zurrte er das Seil fester.
Sie rang nach Luft. Ihr gesamter Körper wurde noch enger an die schuppige Baumrinde gepresst. Schmerz durchzuckte sie, aber sie biss die Zähne zusammen. Sie brauchte nur zu warten. Wenn er nahe genug an sie herankam, konnte sie ihn treten. Mit aller Kraft. Gegen das Schienbein. Oder in seine Geschlechtsteile.
Sie konnte, sie wollte sich das hier nicht gefallen lassen.
Ihr Herz raste, und sie überlegte angestrengt, wie sie sich retten könnte, wie sie sich aus ihren Fesseln herauswinden und den schneebedeckten Wildwechsel wieder hinaufsteigen könnte, den er sie herabgezerrt hatte. Oh, sie hatte sich gewehrt. Hatte sich gewunden und gekämpft, sich auf ihn gestürzt, versucht, sich zu befreien, um nicht dem grauenhaften Schicksal zu begegnen, das er ihr zugedacht hatte. Sie sah noch die frischen Spuren im hohen Schnee – die großen Abdrücke seiner Stiefel und die kleineren Spuren ihrer nackten Füße in einem wilden Zickzackmuster, das entstanden war, als sie zu fliehen versuchte, obwohl er sie mit seinem Messer bedrohte. Blutstropfen leuchteten im weißen Schnee, bezeugten, dass er sie verletzt hatte, dass er aufs Ganze ging.
Lieber Gott, hilf mir,
betete sie stumm zum bleigrauen Himmel hinauf, dessen Färbung noch mehr Schnee verkündete.
Er zog das Seil, das sie fesselte, noch fester an.
»Nein!«, versuchte Mandy zu schreien.
»Nein! Nein! Nein!«
Doch der eklige Knebel füllte ihren Mund und dämpfte ihre Schreie, so dass sie kaum zu hören waren. Panik tobte in ihren Adern, ihr Herz hämmerte.
Warum? Warum ausgerechnet ich?
Sie blinzelte gegen die Tränen an, doch sie spürte, wie salzige Tropfen aus ihren Augen rannen und auf ihren Wangen gefroren.
Nicht weinen. Was du auch tust, zeig ihm
nicht
, dass du Angst vor ihm hast. Diese Befriedigung gönnst du dem Scheißkerl nicht. Aber wehre dich auch nicht. Täusch ihm vor, dass du aufgibst, und tue so, als hättest du dich in dein Schicksal ergeben. Vielleicht wird er dann unvorsichtig, und du kannst irgendwie sein Messer an dich bringen.
Ihr Magen verkrampfte sich noch schmerzhafter, und sie versuchte nun, seine Waffe, ein Jagdmesser, wie man es zum Ausweiden von Wild benutzte, im Auge zu behalten. Es war rasiermesserscharf und würde das Seil problemlos durchtrennen. Genauso problemlos konnte es allerdings auch in ihr Fleisch schneiden.
Ihre Knie wurden weich, und sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu jammern und zu betteln, zu wimmern und zu flehen, ihm anzubieten, alles zu tun, was er wollte, damit er ihr nur nichts Böses zufügte.
Los, mach schon, zeig ihm, dass du dich in
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