Schattennächte: Thriller (German Edition)
Faust gegen ihre Rippen.
Wer war da im Haus? Mit wem stritt ihre Mutter? Was sollte sie tun? Sollte sie die Polizei rufen? Sollte sie fliehen? Sollte sie die Treppe hinunterlaufen und sich einmischen?
Sie lief zum Treppenabsatz und lauschte, versuchte, über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hinweg etwas zu hören. Sie hielt den Atem an, presste die Hände auf den Mund, während ihr Tränen in die Augen stiegen.
Sie erwartete, eine andere Stimme schreien zu hören. Sie erwartete eine Männerstimme. Der Mann, der Leslie entführt hatte, vielleicht. Aber Leah hörte sie nicht. Dann rief ihre Mutter erneut: »Wo ist sie?«
Wo ist wer? Ihre Mutter schien Leslie zu meinen, und das bedeutete, dass sie Roland Ballencoa anschrie.
Oh nein, nein, nein!
Tränen quollen aus ihren Augen und liefen über ihre Wangen. Sie hörte noch immer keine andere Stimme. Vielleicht telefonierten sie. Wenn ihre Mutter telefonierte, dann bestand keine Gefahr.
Das ließ sich allerdings nur auf eine Weise herausfinden.
Leah bezwang ihre Angst und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Die Sonne ging gerade auf und tauchte das Haus in ein merkwürdig gelbgraues Licht. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals.
»Wo ist sie, du Schwein!«, rief ihre Mutter.
Niemand antwortete. Mit wem telefonierte sie um diese Zeit? Leah verstand das alles nicht.
»Mom?«, sagte sie mit zittriger Stimme und so leise, dass man sie im Nachbarzimmer nicht hören konnte. Sie schlich zum Esszimmer, ihr Mund war trocken.
Bumm, bumm, bumm , pochte ihr Herz in ihren Ohren.
Sie sah um den Türstock herum ins Wohnzimmer. Es war niemand zu entdecken – nicht ihre Mutter, nicht Roland Ballencoa. Der Raum war leer.
Verwirrt ging sie einen Schritt hinein, dann noch einen.
»Mom?«
Plötzlich sprang ihre Mutter hinter dem Sofa hervor wie ein wütendes wildes Tier, einen grauenerregenden Ausdruck im Gesicht, einen Arm ausgestreckt. Sie starrte Leah an, als hätte sie sie noch nie gesehen.
Leah schrie und sprang zurück. » NEIN , MOMMY !«
Als wäre ein Bann von ihr genommen worden, blinzelte ihre Mutter mehrere Male. Zunächst wirkte sie orientierungslos, dann waren ihre Augen plötzlich wieder klar.
»Mein Gott«, flüsterte sie. Sie blickte auf ihre Hände, als erwartete sie, etwas zu sehen, das nicht da war. »Mein Gott«, flüsterte sie erneut und presste eine Hand auf ihre Brust. Sie keuchte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es tut mir so leid, mein Schatz. Es tut mir so leid.«
Leah machte einen Schritt auf sie zu. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust. »Ist alles in Ordnung? Ich habe dich schreien hören und wusste nicht, was los ist.«
»Ich glaube, ich habe geträumt«, sagte ihre Mutter. Sie sah krank aus. Sie war kreidebleich und schwitzte. Das weite graue T-Shirt war völlig durchgeschwitzt, so als hätte sie stundenlang schwer gearbeitet. Sie strich sich mit beiden Händen die Haare zurück und ließ sich aufs Sofa sinken, als würden ihre Beine sie nicht mehr tragen, dachte Leah.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie noch einmal.
Ihre Mutter nickte und versuchte zu lächeln, dann klopfte sie auf das Polster neben ihr. »Setz dich, mein Engel. Ich muss dir etwas sagen.«
Leah bekam sofort wieder Angst. Diesem Satz folgten nie gute Nachrichten. Ihm folgte immer nur etwas Schreckliches.
Wir müssen dir etwas sagen: Deine Schwester wird vermisst. Wir glauben, dass sie entführt wurde …
Ich muss dir etwas sagen: Dein Vater hatte einen Autounfall. Einen sehr schlimmen …
Sie schien eine Ewigkeit bis zum Sofa zu brauchen. Ihre Knie wollten sich nicht beugen, damit sie sich hinsetzen konnte.
»Leah«, begann ihre Mutter, »der Mann, der Leslie entführt hat … er ist hier.«
Leah drehte sich der Magen um. Sie sah sich schnell um, als könnte dieser Mann hinter ihr stehen.
»Nicht hier im Haus«, sagte ihre Mutter rasch und streichelte Leahs Hand. Ihre Finger waren wie Eiszapfen. Sie atmete immer noch keuchend, als wäre sie gerannt. »Er ist hier in Oak Knoll. Er wohnt hier.«
Leah wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, ob sie Angst empfinden sollte oder Wut oder irgendetwas anderes. Warum war er hier? War er ihnen hierher gefolgt? Warum konnte er nicht einfach vom Erdboden verschwinden? Warum konnte er nicht einfach sterben? Sie würde nie begreifen, warum die Polizei ihn nicht ins Gefängnis hatte stecken können. Alle glaubten, dass er Leslie entführt hatte. Fast alle glaubten, dass er sie
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