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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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fremdes, aber das war ja auch nicht anders zu erwarten. Immerhin ist das hier nicht ihre Filiale. Sie schluckt und fühlt, wie etwas in ihrem Hals sich zusammenschnürt.
    »Ja?«, fragt das Gesicht mit einem aufmunternden Lächeln.
    »Ich ...«, setzt sie an, und ihr Blick streift wieder die Geldbörse in ihrer Hand. »Es tut mir leid, aber ich wollte nur ... Ich möchte ...«
    Als sie bemerkt, dass die wenigen hilflosen Satzfetzen ganz offenbar schon ausreichen, um das Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe zum Handeln zu veranlassen, unterbricht sie sich und reicht ihre Sachen durch das andere, das zweite Loch. Das Gesicht schenkt ihr ein unverbindliches Nicken und wendet sich ab.
    Und sie wartet.
    Da ist eine Uhr an der Wand hinter ihr. Sie sieht die gespiegelte Zeit in der Scheibe, eine knappe Handbreit über ihrem Kopf. Die Zeiger bewegen sich rückwärts. Das ist nicht gut, denkt sie. Rückwärts ist die falsche Richtung. Die Vergangenheit ist noch viel gefährlicher als die Zukunft.
    Schnell lässt sie ab von der Uhr. Nicht darüber nachdenken.
    Von irgendwoher fällt Sonnenlicht auf den Marmorboden in ihrem Rücken. Lichtkleckse, gleichmäßig und oval. Eier, denkt sie, froh, etwas gefunden zu haben, das sie ablenkt. Eier. Osterglocken. Die hübsch gepflegte Rasenfläche hinter dem Haus, auf der sie früher im Sommer Tennis gespielt haben, bis es so dunkel war, dass sie den Ball nicht einmal mehr vage erahnen konnten.
    Sie fühlt ein Lächeln auf ihren Lippen und denkt, dass sie eigentlich gar nicht lächeln will. Dass völlige Ausdruckslosigkeit das Einzige ist, was einen retten kann. Vielleicht retten ...
    Und wie’s da drin aussieht, geht niemand was an.
    Ein Geräusch lässt sie aufblicken.
    Vor ihren Augen flattert das vertraute Rascheln der Geldscheine, die das Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe ihr ernst und gewissenhaft vorzählt. Fast möchte sie lachen oder zumindest doch »Halt, Stopp, nicht nötig« rufen, aber die Erfahrung hat sie gelehrt, dass es besser ist, sich zurückzuhalten. Dabei prüft sie den Betrag niemals nach, auch zu Hause nicht. Und sie schaut auch nie hin, richtig hin, wenn das Schaltergesicht die Scheine mit geübter Routine durch seine Finger laufen lässt. Es könnten Dollar sein. Oder Spielgeld. Sie würde es nicht bemerken.
    Natürlich tut sie trotzdem so, als ob sie hinsieht, und wartet, bis das Flattergeräusch des Geldes aufhört. Dann streckt sie die Hand durch das Loch in der Scheibe, schiebt die Scheine mitsamt der Auszahlungsquittung in ihre Brieftasche und beschließt, dahin zurück zu gehen, wo sie jetzt wohnt.
    »So, bitte schön.«
    Sie nickt.
    »Und ein schönes Wochenende.«
    Jetzt sollte sie wohl »Danke, das wünsche ich Ihnen auch« sagen, aber da ist etwas, das sich in den vergangenen Sekunden zwischen sie und ihre erlernten Höflichkeiten geschoben hat und das die Floskel blockiert, die so wichtig wäre, um nicht aufzufallen. Dabei könnte sie nicht einmal sagen, was sie so irritiert, zumindest nicht im Augenblick. Ein Geruch vielleicht. Was das betrifft, ist sie empfindlich. So vieles, denkt sie, hängt im Grunde an Gerüchen. Schönes wie Schlimmes. Das Aroma von warmer Milch. Frisch gemähtes Gras. Altes Holz und Tapetenleim. Der Duft von Frauenhaar, stets gut gepflegt. Seife in einer rosa Porzellanmuschel. Kaffee aus Blütentassen. Tortenboden, belegt mit Dosenobst, Pfirsichspende aus dem Westen, nur die Banane in der Mitte aus dem Intershop, alles in allem sehr lecker, auch wenn dieses pappige Rotplomben-Zeug, in dem das Obst eigentlich stilvoll versinken sollte, immer klumpt wie der Teufel.
    Sie nickt und will gerade erleichtert sein, als sich unvermittelt eine Stimme zu dem Geruch gesellt, der sie abgelenkt hat. Ein Satz, ebenso kurz wie belanglos. Nichtsdestotrotz ist sie sofort sicher. So sicher, dass sie sich im Grunde gar nicht mehr umzudrehen bräuchte.
    Sie tut es trotzdem – eine alte Neugier vielleicht. Irgendwann muss auch sie ja schließlich einmal neugierig gewesen sein, oder nicht? Kam man denn nicht so auf die Welt, neugierig? War es denn nicht letzten Endes nur eine Entscheidung, die Neugier abzulegen, eine Vorsichtsmaßnahme?
    Ihre Augen treffen aufeinander.
    Und sie sagt nur ein einziges Wort: Malina.
    Aus ihrem Munde klingen die sechs Buchstaben, als seien sie allesamt großgeschrieben. Aber hat sie sie tatsächlich ausgesprochen, oder denkt sie sie nur? Hat sie wirklich und wahrhaftig laut gesagt, was so lange her

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