Schattenriss
gelernt hatte, den schier unstillbaren Wissensdurst ihres Forschergeistes etwas anderem unterzuordnen. Etwas Wichtigerem: Rücksichtnahme. Die Erkenntnis überschwemmte ihn mit einem Gefühl von Stolz. Aber auch mit Scham.
Wie viel haben Kinder uns voraus, dachte er, als er den Wagen auf den kleinen Parkplatz neben dem Eingang lenkte. Und was tun wir ihnen an, indem wir ihnen nehmen, was so selbstverständlich ist ...
»Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du nicht möchtest«, sagte er, indem er sich zu seiner Tochter umdrehte. Und fast hoffte er, dass sie auf sein indirektes Angebot anspringen würde. Dass sie sagte: Nein, ich will nicht mit. Bitte, Papa, ich fürchte mich. Lass uns wieder nach Hause fahren, ja?
Doch Nina sagte nichts.
Stattdessen nahm Silvie zuerst ihn und dann ihre gemeinsame Tochter bei der Hand. »Welches Zimmer?«
Verhoeven zögerte noch immer. »Sechsunddreißig.«
Sie nickte und ging voran. Im Gehen holte sie eine Schachtel Lindt-Pralinen aus ihrer Tasche. Sie fragte ihn nicht, ob es ihm recht sei. Aber sie verzichtete darauf, die Schachtel an Nina weiterzureichen, was sie oft tat, wenn sie einen Besuch machten und ein Mitbringsel zu übergeben war.
»Dort hinten ist es«, sagte Verhoeven. »Die rechte Tür.«
Seine Frau nickte abermals und klopfte dann zweimal kurz und energisch an das dünne Sperrholz. Anschließend machte sie einen Schritt zur Seite, um ihm den Vortritt zu lassen. Vielleicht, damit er sich nicht drücken konnte.
Verhoeven atmete tief durch und trat in den überheizten Raum, in dem es betäubend intensiv nach Orangenschalen und Desinfektionsmitteln roch. Interessiert es mich wirklich, warum Schwester Beate von der Nachtschicht meine Pflegemutter nicht leiden kann?, überlegte er. Interessiert es mich, was sie tut oder nicht tut, um Anna zu ärgern? Bin ich im Begriff, meine Tochter in etwas hineinzuziehen, an das ich selbst nicht glaube? Benutze, verrate, verschleiße ich meine Familie an einem Teil meiner Vergangenheit, der für mich selbst schon schlimm genug ist? Oder tun wir alle hier gerade den ersten Schritt in ein anderes, unbelasteteres Leben?
Er konnte es nicht sagen.
Noch nicht.
»Hallo, Anna«, sagte er stattdessen. »Ich möchte dir jemanden vorstellen ...«
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