Schattenriss
selbst geschriebene Einladungskarte mitgegeben hatte, auf der sie Winnie Heller zu einem gemeinsamen Glas Zitronentee an den Goldfischteich der Verhoevens bat, sobald das Wetter dies zulasse und ...
»Verzeihung.«
Winnie Heller zuckte erschrocken zusammen, als sie eine leise Berührung an ihrem linken Arm fühlte.
»Ich glaube, das hier ist Ihnen runtergefallen.«
Sie murmelte ein paar eilige Dankesworte und nahm den Um schlag mit der Pokerkasse entgegen, den ihr ein groß gewachsener älterer Herr nachsichtig lächelnd entgegenstreckte. Das verdammte Geld auch noch um ein Haar zu verlieren war zweifellos eine Freud’sche Fehlleistung allererster Güte! Oder gab es so etwas nur auf verbaler Ebene? Winnie Heller schüttelte ratlos den Kopf, während sie sich mit einem raschen Blick in den Umschlag vergewisserte, dass der hilfsbereite Herr tatsächlich so redlich gewesen war, wie er ausgesehen hatte. Dann stapfte sie entschlossen auf die drei Schalter im rückwärtigen Teil der Filiale zu.
Der mittlere schien unbesetzt zu sein, am linken war eine brünette Kassiererin um die vierzig mit etwas beschäftigt, das man zumindest aus der Entfernung nicht näher definieren konnte. Sie blickte kurz auf, als Winnie Heller quer über den hellen Marmor auf sie zusteuerte, und sah dann genauso schnell wieder weg. Die Botschaft, die hinter dieser Geste steckte, war eindeutig: Ich hab Feierabend, Schätzchen, also wag es bloß nicht, mich zu belästigen, klar?
So viel zum Thema Servicewüste Deutschland, dachte Winnie Heller, indem sie sich widerstrebend dem letzten verbliebenen Schalter zuwandte.
Dort stand bereits eine Kundin, die zu ihrem und des Kassierers Leidwesen ein Problem zu haben schien, das sich nicht mit ein paar kurzen Federstrichen aus der Welt schaffen ließ. Dem Blick des Bankangestellten war deutlich zu entnehmen, dass er es hasste, kurz vor Schalterschluss noch mit derart komplexen Angelegenheiten behelligt zu werden, auch wenn er sich im Gegensatz zu seiner athletischen Kollegin ein Mindestmaß an Mühe gab, seinen Unmut hinter einer Fassade geschäftsmäßiger Gleichgültigkeit zu verbergen. Mit einem genuschelten »Augenblick, bitte« in Richtung seiner Kundin wandte er den Kopf, um eine Reihe von Zahlen in seinen Computer zu tippen, während sich Winnie Heller schicksalsergeben mitten auf der weißen Diskretionslinie postierte und den Reißverschluss ihrer Fleecejacke aufriss. Immer und überall falsch angezogen zu sein schien irgendwie zu den Grundzügen ihrer Persönlichkeit zu gehören, und so sehr sie sich auch bemühte, es wurde einfach nicht besser. Wenn ein plötzlicher Kaltlufteinbruch die Temperaturen von jetzt auf gleich in den Keller sacken ließ, war unter Garantie sie diejenige, die in einer dünnen Baumwollbluse Dienst schob und keine Strickjacke dabei hatte. Aber ihren schalterschlussbedingten Dauerlauf inmitten all dieser linden Frühlingswinde dort draußen absolvierte sie selbstredend in Winterklamotten!
Sie stieß einen entnervten Seufzer aus und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann betrachtete sie wieder den Rücken jener Bankkundin, die wie ein Fels zwischen ihr und der erfolgreichen Erledigung ihres Auftrages stand. Die Frau war korpulent und schien buchstäblich die Ruhe weg zu haben, während der bedauernswerte Kassierer mit jeder Zahl, die er in die Tastatur seines Rechners hämmerte, nervöser wurde. Winnie Hellers Augen wanderten von seiner erschreckend bleichen Stirn zum speckig-rosigen Nacken seiner Kundin, der wenig vorteilhaft über deren Parkakragen quoll, und von dort weiter abwärts bis zu einem Paar spitz zulaufender Füße, die – gemessen an den sonstigen Proportionen der Frau – geradezu unverhältnismäßig klein wirkten. Neben dem linken stand ein wuchtiger Einkaufsroller aus rotem Plastik, der allem Anschein nach zwei eingeschweißte Sechserpackungen Mineralwasser enthielt.
Kinderlose Hausfrau, urteilte Winnie Heller im Stillen, und mit einem Anflug von Ärger setzte sie hinzu: Jede Wette, dass diese Tante sich schon seit dem Frühstück wie ein Schneekönig darauf freut, zur unpassendsten aller Zeiten bei ihrer Hausbank aufzulaufen, um dort die unpassendste aller Fragen zu stellen!
Der »Frühling« von Vivaldi unterbrach ihre stumme Tirade und erfüllte die hohe Halle unvermittelt mit sonor-synthetischen Klängen.
Winnie Heller merkte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss. »Ja?«, beeilte sie sich, dem Spuk ein Ende
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