Schattenriss
Schaufenster einer der zahlreichen Boutiquen gesehen. FREUNDL. AUSHILFE FÜR DIE SAISON GESUCHT. BEZAHLUNG NACH VB.
Die Besitzerin blickte sie ungläubig an, als sie danach fragte. »Es wäre aber nur bis zum Herbst«, sagte sie, indem sie mit
gerunzelter Stirn an Ingers Armanijeans hinuntersah.
»Ich weiß«, antwortete Inger. Bis zum Herbst hier, und dann
Südfrankreich, Spanien, Portugal oder ... Na ja, mal sehen! »Und Sie sind sicher, dass Sie ... ?«
»Ja«, sagte Inger. »Ich bin sicher.«
Als sie aus der Tür trat, empfing sie frischer Seewind, der bereits erste größere Lücken in den wolkenverhangenen Himmel gerissen hatte.
Inger überlegte, ob sie sich sofort nach einem Zimmer umsehen oder zuerst noch einmal an den Strand hinuntergehen sollte, und gab dem Strand den Vorzug. Als sie am Wasser stand, hielt sie Ausschau nach dem kleinen Mädchen mit dem Großvater, doch die beiden waren verschwunden. Stattdessen spielten ein paar junge Leute an derselben Stelle Frisbee. Der Wind trug ihre ausgelassenen Rufe zu Inger herüber, und fast war ihr, als höre sie Svens warmes Lachen mitten unter ihnen.
EPILOG
Wer wohnte dort? Wessen Hände waren rein?
Wer leuchtete in der Nacht,
Gespenst den Gespenstern?
Ingeborg Bachmann, »Nachtflug«
Verhoeven blickte auf das Grab seines Pflegevaters hinunter. Es wirkte ungepflegt, fast verwildert, seit Anna nicht mehr herkam, um Ordnung zu schaffen.
Er hatte keine Blume mitgebracht, so weit war er noch nicht.
Aber ein Licht. Immerhin.
Er entzündete den Docht und mühte sich eine Weile mit dem goldenen Aludeckel ab, der einfach nicht einrasten wollte und sich schließlich so weit erhitzt hatte, dass Verhoeven sich die Finger verbrannte. Dann zupfte er ein paar Unkräuter aus dem sandigen Boden, platzierte das Licht in einer kleinen Mulde, damit der kräftige Westwind es nicht umwerfen konnte, und richtete sich auf. Er führte kein stummes Zwiegespräch, und er erhob auch keine Anklage. Er stand einfach nur da und ließ das unruhige Flackern der Flamme auf sich wirken, die einen matten roten Schein auf den wild wuchernden Efeu warf. Vereinzelt fiel ein Regentropfen auf den erhitzten Deckel und löste sich zischend in Luft auf.
Verhoeven dachte an Winnie Heller, die nicht mehr mit ihren Eltern sprach, seit ihre Schwester gestorben war. Und an die Beschimpfungen, mit denen der Mann unter dem Efeu ihn von klein auf überschüttet hatte.
Als er genug hatte, ging er zum Auto zurück, wo Silvie und Nina auf ihn warteten.
Er stieg ein und fuhr los, ohne zu wissen, ob er jemals wiederkommen würde.
Seine Tochter sprach auf der gesamten Fahrt kein einziges Wort. Dabei redete sie für gewöhnlich wie ein Wasserfall, wenn sie unterwegs waren. Papa, schau doch mal! Guck, Papa, da ist ein gaaaanz großer Kran! Papa, was ist das für ein Auto da drüben?
Verhoeven betrachtete ihr zartes Gesichtchen im Rückspiegel und fragte sich, ob er sie mit seiner Vergangenheit überforderte. Kinder bekamen so viel mehr mit, als man glaubte. Was, wenn Nina tatsächlich erfasste, worum es hier ging? Was, wenn sie ...
»Papa?«
So viel zum Thema Kinder und Intuition! »Ja?«
»Bist du böse?«
»Nein, mein Schatz«, entgegnete er. Doch dann fiel ihm ein, dass er sich in den vergangenen Tagen vorgenommen hatte, seine Tochter niemals wieder zu belügen, und er korrigierte sich hastig: »Nicht direkt böse«, erklärte er, und er sah, wie Silvie neben ihm die Lippen zusammenkniff. »Ich bin vielleicht ein bisschen ...«
Tja, was denn eigentlich? Verhoeven überlegte, aber er wurde sich einfach nicht klar über das, was er fühlte. Zum ersten Mal in all diesen Jahren war er sich nicht mehr sicher über das Ausmaß seiner Wut. Etwas, das ihn verunsicherte, weil dieser Zustand ihn orientierungslos machte. Unwillkürlich blickte er auf seine Armbanduhr, auf den Kompass, den Grovius ihm zur Hochzeit geschenkt hatte.
Sie müssen vergessen , flüsterte Ylva Bennet in seinem Kopf. Glauben Sie mir, wer nicht vergessen kann, kommt um ...
»Ich bin ein bisschen durcheinander«, sagte er, als ihm bewusst wurde, dass er seiner Tochter noch immer nicht geantwortet hatte. »Weil ich nicht weiß, ob ich ärgerlich oder traurig oder froh bin.«
Er konnte sehen, dass ihr die nächste Frage bereits auf der Zunge lag, aber sie stellte sie nicht. Stattdessen sah sie zum Seitenfenster hinaus, ernst und braunäugig. Und Verhoeven begriff, dass seine Tochter soeben ganz von allein
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