Schattenschmerz
Verbindung ab. Der Notrufsprecher winkte sofort den Schichtleiter zu sich. Zweimal ließ sich sein Vorgesetzter das Band mit der schnarrenden Stimme vorspielen. Ungläubig lauschten die Männer in der Einsatzzentrale den Worten des Anrufers. Der Schichtleiter war der Erste, der sich wieder fasste. «Verbinde mich sofort mit dem Kriminaldauerdienst», befahl er seinem Kollegen.
Das sich drehende Licht der Streifenwagen tauchte die Bäume für Bruchteile von Sekunden in ein unwirkliches Blau.
Müde stand Martin Möller neben seinem Einsatzfahrzeug. Er fror.
Dreimal hatten seine Leute den Park an der schmalen Wohnstraße Neustadtscontrescarpe in den vergangenen zwei Stunden nach verdächtigen Objekten abgesucht. Aber außer illegal entsorgtem Müll in den Büschen fanden sie nichts.
Das hätte ich dem Polizeiführer vom Dienst gleich sagen können, dachte Möller wütend. Wenn sie sich von jedem besoffenen Anrufer so scheuchen ließen, würden sie nie zu ihrer eigentlichen Arbeit kommen. Aber die Kollegen vom höheren Dienst wussten es natürlich mal wieder besser. Sie mussten ja auch nicht frühmorgens bei Nieselregen Meter für Meter eines Parks absuchen.
Eine Bombe beim Kindergarten. So ein Quatsch! Missmutig beugte sich der stellvertretende Revierleiter ins Auto und griff zum Funkgerät. «Wir brechen den Einsatz ab. Sammelt die Absperrbänder ein. Und dann gibt es erst mal heißen Kaffee im Revier. Ich spendier für alle ein paar Brötchen.»
Möller sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben Uhr. Gegen acht würden die ersten Eltern ihre Sprösslinge in den nahe gelegenen Kindergarten bringen. Seine Kollegen mussten sich beeilen. Schließlich sollte niemand mitbekommen, dass in den vergangenen Stunden drei Streifenwagenbesatzungen den Spielplatz, die Bolzwiese und die Büsche nach einer Bombe abgesucht hatten. Möller wusste, wie schnell sich Hysterie breitmachen konnte. Hauptsache, die Presse würde keinen Wind von der Aktion bekommen. Je mehr öffentliche Beachtung ein Verrückter bekam, umso verlockender war es für ihn, die Einsatzkräfte eine weitere Nacht zu beschäftigen.
Am anderen Ende des Parks kam Bewegung auf. Ein Pritschenwagen zog einen Anhänger hinter sich her und näherte sich im Schritttempo einer Absperrung. Möller sah, wie zwei Beamte die Gärtner passieren ließen. Vermutlich wollten die Männer Bäume und Hecken beschneiden. Er dachte an seinen eigenen Garten. Bisher hatte er an den Wochenenden noch keine Zeit gefunden, ihn winterfest zu machen.
Nach wenigen Minuten hatten die Polizeibeamten alle Bänder abgenommen. Sie sehnten sich danach, sich aufzuwärmen und einen Kaffee zu trinken. Die ersten stiegen bereits wieder in ihre Fahrzeuge. Aus dem Augenwinkel sah Möller, wie der Pritschenwagen über den Rasen fuhr und im Halbkreis auf eine Baumreihe vorm Eingangstor des Kindergartens zusteuerte. Das Fahrzeug kam zum Stehen, und der Beifahrer stieg aus. Er dirigierte seinen Kollegen beim Rückwärtsfahren. Offenbar wollten sie mit dem Anhänger direkt zwischen einem relativ großen, auf dem Rasen liegenden Baumstamm und der Schaukel unter einer alten Kastanie hindurchfahren. Der letzte Sturm hatte einen Ast in mehreren Metern Höhe halb abgerissen. Höchste Zeit, ihn herunterzuholen.
Der Beifahrer fuchtelte mit den Händen. Von weitem hörte Möller, wie der Mann seinem Kollegen hinterm Steuer immer neue Kommandos zurief. Aber dem Fahrer gelang es nicht, ein paar Meter gerade nach hinten zu fahren, ohne dass der Anhänger zur Seite ausscherte. Schließlich gab er auf und fuhr im Halbkreis über die Wiese, um diesmal von vorne zwischen Schaukel und Baumstamm durchzufahren. Dabei streifte der linke hintere Reifen ein Schild auf der Wiese.
Der Knall der Explosion war ohrenbetäubend.
Später würde sich Möller wie in Zeitlupe an jedes einzelne Bild erinnern. Auch an die Druckwelle, die wütend an dem Fahrzeug der Gärtner rüttelte. Eine Seite des Anhängers zerbarst in Tausende Splitter, die wie Geschosse die Luft zersiebten. Eine unsichtbare Kraft hob den Anhänger drei, vier Meter vom Boden hoch und schleuderte ihn zurück auf den Rasen. Dunkle Erdbrocken spritzten auf. Wo eben noch ein Weg und die Beetumrandung waren, klaffte ein tiefer Krater im Boden. Die Fahrerkabine des kleinen Pritschenwagens stürzte zur Seite, überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen. Einsam rollte einer der vorderen Reifen über den Rasen. Dann war es plötzlich still. Alles im Park schien den
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