Schattenschmerz
nicht, dass jemand auf ihn zurannte. Hörte nicht, dass man ihm etwas zurief. Er sah nur die runden, gelben Lichter und die Umrisse eines großen Lastwagens, der mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zuraste.
Er schloss die Augen und zählte laut die Sekunden. «Sieben, sechs, fünf …» Die Erde unter seinen Füßen vibrierte. «… vier, drei …» Ohne die Augen zu öffnen, machte er einen großen Schritt auf die Fahrbahn. Dann breitete er die Arme aus, als wolle er das Geschoss umarmen. «… zwei, eins.»
Das Letzte, was er hörte, war ein langgezogener, verzweifelter Schrei.
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01
Navideh Petersen stützte sich mit beiden Händen auf der steinernen Brüstung der Terrasse ab und sog tief die salzige Meeresluft ein.
Die Aussicht von ihrer Ferienwohnung auf die weite Bucht zu ihren Füßen war überwältigend. Das blaugrüne Meer glitzerte in der Septembersonne. Parallel zum mallorquinischen Festland stemmte sich eine Yacht gegen die Wellen in Richtung Westen.
Ihr Blick folgte dem Schiff, schweifte nach links ab und blieb an dem Pinienwald hängen, der sich bis ans Meer vorwagte. Die Naturbucht wurde im Westen von einer felsigen kleinen Landzunge begrenzt. Dahinter, das hatte sie in einem Prospekt gelesen, lag eine weitere schmale Bucht, in der im Sommer abends immer einige Segler vor Anker gingen. An einem Berghang, hoch über dem Meer, meinte sie einen der typischen, uralten Wachtürme der Insel zu erkennen.
Navideh kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Aber der Berg war zu weit weg. Sie ging in ihre Wohnung zurück, holte sich ein Haarband aus dem Badezimmer und zog das Fernglas aus der Tasche, die direkt neben ihrem Bett stand. Dann kehrte sie auf die Terrasse zurück. Mit geübtem Griff band sie ihre schwarzen Haare zusammen, auf denen in der Morgensonne ein bläulicher Glanz lag.
Meter für Meter suchte Navideh durch das Fernglas die Kuppel des Berges ab. Tatsächlich! Sie hatte sich nicht getäuscht. Die Erhebung auf dem höchsten Punkt war ein Wachturm. Einer der über 80 Torres, die die Insel ab dem 16. Jahrhundert vor Überfällen von Piraten bewahren sollten.
Von dem Turm aus muss man einen phantastischen Blick haben, dachte Navideh und nahm sich vor, nach dem Frühstück die Erkundung ihres Urlaubsortes mit einer kleinen Bergbesteigung zu beginnen.
Auf nackten Füßen ging sie über die geflieste Terrasse in die Küche zurück und sah sich im Raum um. Die Vermieterin hatte ihr zur Begrüßung Obst und fünf Liter frisches Wasser hingestellt. In der Speisekammer entdeckte Navideh eine angebrochene Packung Kaffee von den Gästen, die am Mittag zuvor abgereist waren. Als sie genauer nachschaute, entdeckte sie auch noch eine Tüte Müsli, Marmelade, etwas Knäckebrot sowie ein paar Filtertüten. Den Einkauf für die kommenden Tage konnte sie also getrost auf den Nachmittag verschieben. Für ein Frühstück auf der Terrasse würde es reichen.
Wenige Minuten später trug sie ihr Tablett mit dem dampfenden Kaffeebecher nach draußen. Zwischen ihrer Wohnung und dem Meer lag nur ein felsiges, unbebautes Grundstück und eine schmale, hübsch gepflasterte Promenade. Dahinter brach der Fels steil ins Meer ab.
Wieder schweifte ihr Blick über die Bucht. Die Yacht war verschwunden, der Naturstrand im Westen noch menschenleer. Niemand schien so früh unterwegs zu sein. Bald wäre die Saison zu Ende. Schon jetzt hielten sich nur noch wenige Gäste in dem kleinen Ort auf. Unwillkürlich musste Navideh an Jorges denken. Noch vor kurzem wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ohne ihren Freund in den Urlaub zu fahren. Aber seit er ihr im Spätsommer von seiner Idee erzählt hatte, für ein Jahr seines Medizinstudiums in die USA zu gehen, hatte sich ihr Verhältnis verändert. Vor allem, nachdem er damit herausgerückt war, dass er sich bereits um einen Platz an einer Universität beworben hatte.
«In den nächsten ein, zwei Wochen rechne ich mit einer Antwort aus Neuengland.» Als Jorges ihren erschrockenen Blick sah, beeilte er sich hinterherzuschieben: «Nur ganz wenige der Bewerber haben eine Chance, in die engere Auswahl zu kommen.»
An jenem Abend spürte Navideh, wie der Kloß im Hals immer größer wurde. Verzweifelt überlegte sie, wie sie ihre zentrale Frage formulieren könnte, ohne zu wütend oder verletzt zu wirken. Schließlich presste sie nur mühsam heraus: «Und was wird aus uns?»
Jorges schaute sie liebevoll an und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide
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