Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
dass die Leute heutzutage bei Wind und Wetter auf die Bretter stiegen. Dass eine Surfschule bis in den Herbst hinein geöffnet hatte, war vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, aber mittlerweile kamen rund ums Jahr Besucher. Mein Vater wirkte betreten, vermutlich war es ihm unangenehm, dass er Sam wegen seines versäumten Abiturs bedrängt hatte. Dabei zeigte Daniels Verhalten nur, dass ihm etwas an meinem Freund lag. Sam machte den Eindruck, als wäre ihm das durchaus bewusst, denn seine Schultern sahen plötzlich viel lockerer aus. Als er auf mich zuhielt, strahlte er von innen heraus, ganz ohne Schattenschwingen-Magie. Er blieb so nah vor mir stehen, dass ich tief einatmete, um seinen Geruch nach Salz, warmer Haut und dem typischen Mila-in-den-Wahnsinn-treib-Duft einzufangen.
»Die Farbe steht dir.« Behutsam streifte Sam die Blume hinter meinem Ohr.
Es war eine schlichte Bemerkung und mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit vorgetragen. Trotzdem brachte sie mich aus dem Gleichgewicht und ich war ernsthaft froh, dass ich auf dem Esstisch saß, so schwindelig war mir plötzlich. Warum konnte er solche Dinge sagen, ohne auch nur einen Hauch rot zu werden, während ich – für jedermann sichtbar – vor mich hin glühte?
»Schade, dass die Flut sich nicht auf später verlegen lässt. Ich würde gerne noch bleiben«, fuhr Sam fort, während seine Fingerknöchel sanft meine Wangenknochen entlangfuhren. Zu größeren Zärtlichkeiten würde er sich in Gegenwart meiner Eltern niemals hinreißen lassen. Auch so eine süße, fast altmodische Seite an ihm.
In meinem Kopf schwirrte es aufgeregt, als mir immer weitere Dinge einfielen, die mich mit einer solchen Gewalt zu ihm hinzogen, dass es schon nicht mehr normal war. Meine Gefühle waren wie ein Fallschirmsprung aus 3000 Metern in den blauen Himmel, wunderschön und erschütternd zugleich.
Kurz entschlossen stand ich trotz meiner Puddingknie auf und zog Sam in die Diele. Als ich die Tür hinter mir schloss, fing ich mir ein vielsagendes Grinsen von Reza ein. Gut, dass es Sam entgangen war, ansonsten würde diese Tür nämlich ruckzuck wieder offen stehen, damit meine Eltern bloß nicht auf falsche Gedanken kamen. In dieser Hinsicht war er übertaktvoll – einmal abgesehen davon, dass diese Rücksichtnahme zumindest Reza gegenüber längst nicht mehr angebracht war. Bei Gelegenheit musste ich ihm gestehen, dass ich meiner Mutter brühwarm von unserem ersten Zusammensein in Lucas Wohnwagen erzählt hatte, sogar noch vor Lena.
Wie erwartet hatte meine Mutter mich in die Arme genommen und mir »mein großes Mädchen« ins Ohr geflüstert. Dann hatte sie sich über die Augen gewischt, einen Keks genommen und gesagt: »Wohnwagenromantik … du bist wirklich zu beneiden. Ich könnte dir eine Geschichte über ein gammeliges WG-Zimmer erzählen, die du auf keinen Fall hören möchtest, wenn ich deinen entsetzten Gesichtsausdruck richtig interpretiere. Dann plaudere ich eben ein anderes Mal aus dem Nähkästchen meines jugendlichen Sexlebens … sofern dir bei der Vorstellung, dass deine Mutter auch ein Sexleben hatte und hat, nicht mehr übel wird. Jedenfalls bin ich sehr glücklich zu wissen, dass Sam und du auch in dieser Hinsicht wunderbar zusammenpasst. Und dass ihr aufpasst … Aber davon bin ich eh ausgegangen, schließlich bist du ganz meine Tochter. Im Badezimmer liegen übrigens Kondome, die hatte ich für deinen Bruder dort deponiert, aber Rufus verschmäht sie ja. Nur damit du Bescheid weißt: An Verhütungsmitteln herrscht bei uns kein Mangel, brauchst nicht erst nachzufragen. Nun verdreh nicht gleich die Augen, Mila, ich will doch nur, dass du … Gut, ich hör ja schon auf. Ach, ich bin einfach so erleichtert, dass dein erstes Mal schön war. Sam ist eben ein toller und liebevoller Junge, das habe ich von Anfang an gewusst.«
Ja, das war er. Deshalb wollte ich es ihm jetzt auch gleichtun, indem ich meine Gefühle frei und offen kundtat. Während Sam nach seiner Jacke griff, sagte ich deshalb das Erstbeste, was mir durch den Kopf ging.
»Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, dass deine geradezu schwerelosen Bewegungen mir den Atem rauben? Allein wie du dich vorhin nach dieser Broschüre gebückt hast, hat mich umgehauen. Ich kenne absolut niemanden, der sich mit einer solchen Anmut bewegt.«
Zunächst zog Sam die Augenbrauen hoch, wohl in der Überzeugung, ich würde ihn veralbern. »Großartig, dass es endlich mal jemandem auffällt,
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