Schattenspieler (German Edition)
Strickleiter herunterhing. Das untere
Ende baumelte leicht hin und her. War das der Wind? Oder
hatte sie jemand benutzt, kurz bevor Leo wieder zu Bewusstsein
gekommen war?
Mit zitternden Knien stieg Leo hinab. Mit jeder Sprosse
zuckten neue Schmerzen durch seine Gelenke. Alles drehte
sich, aber er schaffte es auf den Treppenabsatz.
Die Wohnungstür stand offen. Der Flur dahinter hatte
nichts abbekommen, alles sah aus wie immer. Mit wachsender
Verzweiflung riss Leo eine Tür nach der anderen auf. In
der Küche stand das Geschirr vom Mittagessen noch auf dem
Abtropfgitter. Das Gästezimmer mit dem ungemachten Bett
lag so da, wie Leo es am Morgen verlassen hatte. Auf dem
Schreibtisch in Wilhelms Arbeitszimmer stapelten sich ein
paar Mappen mit Papieren, daneben ein Tischkalender mit
dem Datum von heute. Wilhelms Schlafraum war sauber wie
ein Hotelzimmer, das neue Gäste erwartete. Kein Hinweis auf
sein Verbleiben. Selbst im Badezimmer und in der Abstellkammer
schaute Leo nach. Nichts.
Schließlich betrat er die großzügige Zimmerflucht auf der
anderen Seite des Korridors. Das Esszimmer war glimpflich
davongekommen, die Druckwelle hatte ihre Kräfte offenbar
damit verbraucht, die doppelte Schiebetür aus den Angeln zu
reißen und mitten in den Raum zu schleudern. Staub und
Sand waren hereingewirbelt worden und bildeten eine dünne
graue Schicht auf dem Esstisch, ansonsten war alles wie immer.
Durch den breiten Durchbruch erblickte Leo das Chaos im
Wohnzimmer, das er schon vom Dachboden aus gesehen
hatte. Das Loch in der Wand hatte an seiner breitesten Stelle
nur einen hüfthohen Mauerrest gelassen, das ganze Zimmer
wirkte dadurch wie ein Balkon. Leo blickte eine Weile auf das
Durcheinander und fühlte sich auf einmal unendlich müde
und verzweifelt. Wo konnte Wilhelm nur sein? Warum war
er verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Oder
gab es einen Hinweis, den er gerade übersah?
Leo kämpfte gegen die Niedergeschlagenheit und gegen
die Versuchung an, sich auf den erstbesten Stuhl fallen zu
lassen und einfach einzuschlafen. Die Uhr im Wohnzimmer
tickte, und plötzlich bemerkte Leo, dass das Piepsen in seinen
Ohren nachgelassen hatte. Immerhin. Nachdenklich ging er
zurück in den Flur, blieb eine Weile unschlüssig stehen, trat
dann in Wilhelms Arbeitszimmer und schaltete das Licht ein.
Tausende von Buchrücken. Einen kurzen Augenblick fühlte
Leo sich irgendwie getröstet. Diese Bücher hatten etwas Beruhigendes
an sich.
Wilhelm hatte das Bücherregal auf der rechten Seite des
Raumes einpassen lassen, sodass es die ganze Wand ausfüllte.
Auf der linken Seite standen eine Vitrine, ein riesiger Ledersessel
mit Leselampe und ein kleiner Couchtisch. Die Ecke
dahinter wurde von einer eleganten Chaiselongue ausgefüllt.
Unter dem Fenster an der Stirnseite stand Wilhelms Schreibtisch,
wuchtig und mit grünem Leder bespannt wie der Arbeitsplatz
eines Generaldirektors.
Leo trat näher. Außer dem Kalender und ein paar Stiften
lag nur ein Aktenstapel auf dem Tisch. Keine Nachricht. Leo
blickte sich um, dann nahm er die oberste Mappe vom Stapel
und schlug sie auf. Eine maschinengeschriebene Abhandlung
von Wilhelm über den Maler Piero della Francesca mit dem
etwas gestelzten Titel Der unberechenbare Fluchtpunkt . Leo
kannte den Text. Er war vor Jahren schon erschienen. Warum
beschäftigte sich Wilhelm überhaupt wieder damit?
Leo legte die Mappe an die Seite und öffnete die nächste.
Als er den Seitenkopf des ersten Deckblattes sah, stockte
ihm der Atem.
Der Adler mit dem Hakenkreuz. GEHEIME STAATSPOLIZEI.
Das Plätschern des Wassers setzte aus. Weiter vorn hatte eine
ältere Dame ihren Eimer halb gefüllt, hob ihn hoch und ging,
nein, schritt in Richtung Eichenallee davon. Sie trug Hut und
Mantel und wirkte fast schon demonstrativ elegant, als seien
der feine Stoff und die würdevolle Haltung ihre ganz eigene
Art und Weise, gegen alles zu protestieren, was sie umgab. Im
Hintergrund schwoll das Wummern der Artillerie an und ab.
Bisweilen krachte es etwas schärfer, wenn ein paar Straßen
weiter ein verirrtes Geschoss einschlug.
Friedrich ging zwei Schritte vor und stellte seine beiden
Wassereimer ab. Hinter ihm rückte die Schlange auf. Er spürte
die Blicke der Frauen im Rücken und wusste, was sie dachten.
Jungen in seinem Alter traf man in Berlin schon seit Wochen
nicht mehr ohne Uniform an, und neuerdings auch nicht
mehr ohne Waffe.
Seine Mutter hatte ihm verboten, das Haus zu verlassen,
weil die
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