Schattenspieler (German Edition)
Sie war aufgerückt und stand jetzt dicht hinter ihm.
Friedrich roch eine leichte Alkoholfahne.
»Will ja keenen scharf ankieken!«
»Nun lassen Sie den doch. Wär doch schade drum.« Eine
vierte Stimme.
»Vielleicht ist der Herr Papa einer von den ganz Wichtigen«,
raunte es hinter Friedrich.
»Vielleicht ist der Junge auch einfach nur taub«, sagte die
vierte Stimme fast ärgerlich. »Und jetzt lassen Sie ihn endlich
in Ruhe.«
Friedrich nahm seine Eimer und machte sich auf den Heimweg,
ohne sich noch einmal umzublicken. Wenn ihr wüsstet,
dachte er.
In der Ebereschenallee waren fast alle Häuser intakt – zumeist
mehr oder weniger prachtvolle Villen hinter hohen
Hecken, in denen seit den Zeiten des Kaiserreichs Künstler,
Schauspieler, Architekten und Ärzte wohnten. Und neuerdings
die Parteibonzen, dachte Friedrich.
Er stellte die Wassereimer kurz ab und öffnete das Gartentor.
Zwei alte Kastanien säumten rechts und links die kleine
Freitreppe zum Hauseingang. Aus einem offenen Fenster war
Klavierspiel zu hören. Marlene, seine Schwester, übte an einer
Étude, irgendwas Romantisches, Chopin vielleicht. Für einen
kurzen Augenblick fühlte Friedrich sich in eine Zeit versetzt,
an die er sich kaum noch erinnerte: Frieden. Er war zehn Jahre
alt gewesen, als der Krieg begonnen hatte. Inzwischen war
die ganze Stadt von den Bombern der Alliierten umgepflügt
worden, Millionen von Menschen waren gestorben, ein paar
Stadtbezirke weiter tobten fürchterliche Straßenkämpfe und
in wenigen Tagen würden die russischen Sieger eine riesige
Vergeltungsorgie feiern. Doch in der Ebereschenallee plätscherte
sanfte Musik durch den Garten, die Bäume blühten,
und alles war wie immer, wenn man vom leichten Rauchgestank
und vom gedämpften Grollen der Artillerie absah.
Friedrich stieg die Treppe hoch und öffnete die Tür mit dem
Ellbogen. Als er sah, dass der Mantel seiner Mutter an der
Garderobe hing, erschrak er. Also war mit Ärger zu rechnen.
Er stellte die Eimer leise ab, durchquerte die Eingangshalle der
Villa und trat ins Wohnzimmer.
Seine Mutter saß am Tisch mit dem Rücken zur Glasfront,
die den Blick auf den blühenden Garten freigab. Durch das
Gegenlicht war ihr Gesicht schwer zu erkennen. Sie trug ein
eng anliegendes blaues Kleid und die blonden Haare sahen
aus wie frisch frisiert. Das Wohnzimmer war aufgeräumt wie
immer. Die dunkelblaue Biedermeiergarnitur, die dicken Teppiche,
die Vitrine mit dem Porzellan. Stiche in Glasrahmen,
Bücherregale, Stuck an der Decke.
Friedrich trat näher. Kein Donnerwetter. Sie blickte von
einem Papier auf, das sie in der Hand hielt. Ihre Augen waren
seltsam leer.
»Dein Vater ist tot«, sagte sie ohne spürbare Regung in der
Stimme.
Friedrich starrte sie an. Er war erschrocken, aber weniger
über die Nachricht selbst als darüber, dass sie ihn so wenig berührte.
Seine Eltern hatten sich vor über zehn Jahren getrennt,
das heißt, eigentlich hatten sie sich nicht getrennt. Friedrichs
Vater war nach Marlenes Geburt einfach immer seltener zu
Hause gewesen und schließlich gar nicht mehr gekommen.
Seine Mutter hatte nur selten darüber gesprochen, und wenn
Friedrich gefragt hatte, waren die Antworten knapp ausgefallen.
Aus den wenigen Bruchstücken, die er von den Gesprächen
zwischen seiner Mutter und einigen engen Freunden und
Verwandten aufgeschnappt hatte, ergab sich ein unscharfes
Bild von seinem Vater. Seine Partei und seine neuen Freunde:
laute und großmäulige Emporkömmlinge oder dünnlippige
Karrierejuristen in maßgeschneiderten Uniformen. Korruptionsgerüchte.
Frauengeschichten. Viel Unappetitliches, doch
das Schlimmste, jedenfalls für Mutter, war die Sache mit Marlene.
Seine ungeliebte Tochter.
Aus dem oberen Stockwerk war ganz leise das Klavierspiel
zu hören.
»Weiß sie es schon?«, fragte Friedrich schließlich und deutete
mit dem Kopf vage nach oben.
»Nein.« Sie hielt das Schriftstück hoch, das wie ein Fernschreiben
aussah. »Das hier wurde gerade erst mit einem Boten
geschickt.«
Mit einem Boten, dachte Friedrich. Wie wichtig musste
sein Vater, dieser Gustav Häck, gewesen sein, dass irgendeine
Dienststelle noch Boten durch eine Stadt schickte, in der ein
Menschenleben
so wenig wert war.
»Was ist passiert?«
»Flugzeugabsturz bei Nürnberg.«
Friedrich zog einen Stuhl heran und setzte sich seiner Mutter
gegenüber. Immer noch war in ihrem schmalen und feinen
Gesicht keine Regung zu erkennen. Draußen grummelte es.
»Was hat er zuletzt
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