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Schattenspieler (German Edition)

Schattenspieler (German Edition)

Titel: Schattenspieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Michael Römling
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gemacht?«
    »Ich weiß es nicht genau. Er war bei einem Einsatzstab in
den besetzten Gebieten. Zuerst in Paris, dann in Warschau.
Und zuletzt in Kiew.«
    Friedrich holte tief Luft. Einsatzstab in den besetzten Gebieten.
Das hatte einen beängstigenden Klang.
    »Nicht das, was du vielleicht denkst.«
    Woher wusste sie, was er vielleicht dachte? Es gab seit Jahren
Gerüchte über gewisse Einsätze. Man erzählte sich flüsternd
von Zügen, die nach Osten rollten. Von Massenerschießungen.
Von Öfen, in denen so viele Leichen verbrannt wurden,
dass die Rauchsäulen über Dutzende von Kilometern zu sehen
waren.
    »Woher willst du das wissen?«, fragte er.
    »Dein Vater war einer von denen, aber keiner von der allerschlimmsten
Sorte.«
    »Was dann?«
    Sie sprach langsam. »Er hatte immer Angst, nicht gut genug
zu sein. Für mich. Und vor allem für meine Familie. Er wollte
es ständig allen beweisen. Also ist er zu den Leuten gegangen,
bei denen man am schnellsten aufsteigen konnte. Und bei
denen am meisten zu verdienen war.«
    »Ist das nicht die allerschlimmste Sorte?«
    Sie sagte nichts. Friedrich sah, dass ihre Augen feucht wurden.
Er stand auf, kniete sich neben ihren Sessel und nahm
sie in den Arm. Sie begann zu schluchzen. Es war das erste
Mal, dass er seine Mutter weinen sah. Vielleicht war ich zu
hart, dachte er. Er war immerhin mein Vater. Doch im Grunde
wusste Friedrich, dass ihr eigenes Urteil noch viel härter als
seines war.
    Schließlich löste sie sich aus seiner Umarmung, holte ein
Taschentuch von irgendwo her und wischte sich die Tränen ab.
    »Da ist noch was«, sagte sie und schien einen Augenblick
zu zögern.
    Friedrich blickte sie fragend an.
    »Dein Vater war vor zwei Jahren noch einmal hier. Er hat allerhand
Unterlagen in sein Arbeitszimmer geschleppt und mir
einen Umschlag gegeben. Für uns. Für den Fall seines Todes.«
    Friedrichs Blick fiel auf den Tisch. Da lag ein Umschlag.
Keine Beschriftung.
    »Und?«
    Sie nahm wortlos den Umschlag in die Hand und ließ ein
Blatt herausgleiten. Es war eine Zeichnung, irgendein achteckiger
Grundriss. Ein Pavillon oder so.
    »Unser Familiengrab auf dem Luisenfriedhof.«
    Jetzt erkannte Friedrich es auch. Er hatte das Grab vielleicht
zwei oder drei Mal besucht. Er erkannte die Kapelle und den
kleinen Altar in der Mitte.
    Hinter dem Altar war ein rotes Kreuz eingezeichnet. Sonst
nichts.

Leo nahm mit zitternden Fingern die Mappe vom Stapel und
ließ sich in den Sessel vor dem Schreibtisch sinken. »Geheim!«
stand in der Mitte des Deckblattes in einem schwarzen Kasten.
Und darunter: »Persönlich – sofort vorlegen!« Außerdem
verschiedene Stempel, Kürzel und Unterschriften.
    Zaghaft blätterte er sich durch die Mappe und überflog
einzelne Sätze. Schreibmaschinenschrift, vom Vervielfältigen
körnig und verwaschen, aber immer noch einigermaßen lesbar.
Es handelte sich offenbar um eine Zusammenstellung
von Lageberichten, die von übergeordneten Dienststellen im
ganzen Land ausgearbeitet worden waren. Soundso viele Personen
dem Sondergericht überstellt, stand da an einer Stelle.
Von Wehrkraftzersetzung und Kriegswirtschaftsverbrechen
war die Rede, ein paar Seiten weiter von fremdvölkischen Arbeitskräften
und von der Zeit nach dem Endsieg. Wahn und
Wirklichkeit, dachte Leo. Er wusste, was das alles bedeutete:
Die Sondergerichte fällten im Eilverfahren Urteile über alle,
die nicht bereit waren, ihre Knochen kurz vor dem Ende noch
hinzuhalten. Es waren schon Leute hingerichtet worden, nur
weil sie etwas zu laut das gesagt hatten, was fast alle dachten:
dass der Krieg verloren war.
    Leo blätterte weiter. Berichte über die Räumung von Konzentrationslagern.
Zahlenkolonnen. Ortsnamen. Abgänge
durch Feindfliegerbeschuss. Liquidierungen. Der Ton war
sachlich und knapp. Aber Leo wusste, was das alles bedeutete.
Ihm wurde übel. Er legte die Mappe auf den Stapel zurück.
    Wie in aller Welt kam Wilhelm an diese Dokumente? Es
bestand überhaupt kein Zweifel, dass dieses Material nur für
einen ganz engen Kreis von Eingeweihten gedacht war. Was
hatte Wilhelm mit denen zu schaffen? Konnte es sein, dass er
mit der Gestapo unter einer Decke steckte?
    Kaum hatte dieser Gedanke in Leos Kopf Form angenommen,
schämte er sich schon wieder dafür. Wilhelm konnte keiner
von denen sein. Wilhelm hatte ihm das Leben gerettet und
dabei sein eigenes riskiert. Und wenn er über die Nazis sprach,
dann redete er sich regelmäßig in Rage, und man merkte, wie
er innerlich vor

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