SchattenTod | Ein Weserbergland-Krimi
alles nach Liebe. Das machte sie zu einem leichten Opfer für jemanden, der eine Zuflucht brauchte und sich ins gemachte Nest setzen wollte.
Jens, die zweite Geige
Er war es gewohnt, die zweite Geige zu spielen. Nicht nur im Orchester, sondern auch im Leben. Immer war er einen Hauch zu spät gewesen, wenn es darum ging, sich beruflich zu verbessern oder eine attraktive Frau zum Essen einzuladen. Auch optisch war er kein Mensch, der anderen sofort auffiel. Er war nicht hässlich, aber auch nicht im klassischen Sinne schön und haderte jeden Morgen mit seinem Äußeren.
Doch wenn er seine Violine in der Hand hielt, war er ein anderer Mensch. Vor allem, wenn er allein war. Dann fielen all diese Nebensächlichkeiten von ihm ab. Er verschmolz mit seinem Instrument und entlockte den Saiten alles, was sie zu bieten hatten. Hätte er zur Miete gewohnt, wäre es ihm nicht möglich gewesen, so intensiv zu üben, aber er war stolzer Besitzer eines kleinen Häuschens am Harrl, das ihm seine Verwandten vermacht hatten. Dieser Umstand gab ihm jeglichen Freiraum, seine Musik auszuleben und immer wieder aufs Neue in sie einzutauchen, um dort vor der Realität zu verschwinden. Seine Tage jenseits der Orchesterproben oder Auftritte waren trist. Das Leben hatte ihn zu einem introvertierten Eigenbrötler gemacht.
Es gab nur wenige Momente, in denen er auflebte, ohne dass es jemand bemerkte oder er seine Violine in der Hand hielt. Das waren die Augenblicke, in denen Rieke sang. Da schloss er im Geiste die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher als sie an seiner Seite. Doch niemals hätte er es gewagt, sie anzusprechen. Wenigstens glaubte er das von sich.
Das Mädchen
Sie war blass, ihre Haut war fast durchscheinend und ließ kleine, blaue Adern in Gesicht und Hals klar erkennen. Mit ihrer Gesundheit stand es nicht zum Besten. Zahlreiche Infektionen warfen sie in der Entwicklung zurück. Erst mit eindreiviertel Jahren konnte sie laufen und noch ein Jahr später brauchte sie endlich auch keine Windeln mehr. Aber es war ein herziges Kind. Trotz allem ein munteres, fröhliches Mädchen, das auch gut allein spielen konnte und sich selbst genug war.
Er
Die entnommenen Organe nummerierte er sorgfältig. Er wollte nicht durcheinanderkommen. Dann fror er sie ein. Dieses letzte hier war ungewöhnlich groß gewesen. In Gedanken öffnete er die Truhe und legte es zu den anderen. Einige lagen schon länger hier. Er ging nicht immer nach der Reihe vor, nein, er suchte das passende Organ für die Frau aus, die er vor sich hatte. Die Kleine auf seinem Tisch hatte ein zierlicheres verdient, fand er. Aber das würde er später entscheiden. Zuerst wollte er sehen, wie sie sich ihm öffnete, wie es mit ihr sein würde, und diesen Moment musste er zelebrieren. Er freute sich schon auf das Untergehen der Sonne. Bis dahin war alles bereit. Kerzen würden überall für eine gemütlich erotische Stimmung sorgen. Im CD-Spieler lag Mahlers Auferstehungs-Sinfonie – ein passendes Werk, wie er fand. Ja, sie würde in diesem Moment wieder auferstehen unter ihm. Er allein hatte die Macht, sie ein letztes Mal mit Leben zu füllen. Den Ursprung allen Seins würde er mit seinem Samen ihn ihren Leib spritzen. Leben und Tod in einem Moment vereint, bevor alles verklang, seine Lust, Mahlers Zweite und auch der Körper, der mit jeder Stunde nachlassen würde. Er wollte diesen verblühenden Leib auf einem der großen Grabsteine des Jetenburger Friedhofs drapieren zu nächtlicher Stunde.
Die Fakten
Jeder hing seinen Gedanken nach. Wolf Hetzer dachte an Moni, Peter Kruse an seine beiden Favoritinnen Nadja und Anna und Lady Gaga an einen Ochsenziemer, denn der Geruch eines von ihr bereits verspeisten hing immer noch im Teppich des Kombibodens. Sie sprachen wenig und schwiegen dann ganz. Mit den meisten Menschen wäre das ein Problem gewesen, aber Hetzer und Kruse kannten sich so lange, sie mussten nichts sagen, um sich zu verstehen.
Als sie in Bückeburg ankamen, nahmen sie die Akten unter den Arm. Lady Gaga folgte den beiden Kommissaren die Treppe hinauf. Man hatte sie schon erwartet. Schichtführer Kunze drückte auf den Türöffner und strahlte über das ganze Gesicht.
„Schön, euch mal wieder hierzuhaben!“
„Ist doch noch gar nicht so lange her“, antwortete Wolf mit ebenfalls einem Lächeln.
„Demnächst ist das doch sowieso alles eins“, brummte Peter und rieb sich das Kinn, „die werden aus Kostengründen bestimmt einige Dienststellen
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