Schattenwandler 02. Gideon
sich um, als sie die hohe Stimme vernahm, die nach ihr rief. Da umklammerte auch schon eine kleine Gestalt ihre Beine und warf sie fast um. Lachend sah sie hinunter auf den kleinen Kerl, der sich an ihren dünnen Rock schmiegte.
„Daniel! Du ziehst deine Tante an den Haaren“, schimpfte sie ihn und löste ihre langen Strähnen vorsichtig aus seinem Griff. Sie nahm die kaffeebraunen Strähnen zusammen und strich sie über ihre Schultern, um sie vor der begeisterten Begrüßung ihres Neffen zu schützen.
„Mammi ist schrecklich böse auf mich. Bitte lass nicht zu, dass sie mich verhaut!“
Legna seufzte, zog ihren Neffen von ihren Beinen weg und bückte sich zu ihm hinunter.
„Deine Mutter ist zwar meine Schwester, aber das gibt mir nicht das Recht, mich in ihre Erziehung einzumischen, wenn du ungezogen gewesen bist. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hat mich deine Mutter, weil sie meine ältere Schwester ist, auch immer bestraft, wenn ich unartig war.“ Legna versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, als sich das kleine Gesicht vor ihr voller Entsetzen und enttäuschter Hoffnung verzog. Voller Mitgefühl dachte sie daran, wie streng ihre Schwester sein konnte. „Außerdem hast du doch erst vor zwei Tagen bei mir Asyl gesucht. Hast du dir so schnell schon wieder Ärger eingehandelt?“
„Aber Tante Legna, du bist meine Siddah . Du kannst ihr sagen, dass sie mich nicht hauen darf.“
„Daniel, eben weil ich deine Siddah bin, muss ich deine Mutter dazu anhalten, dich zu bestrafen. Wenn ich als Siddah an der Reihe bin, deine Erziehung zu übernehmen, werde ich auch sehr streng sein mit dir. Ich verspreche dir, mein Herzblatt, dass ich eine strenge Lehrerin sein werde, und meine erste Lektion lautet, dass du dich den Folgen deiner Taten stellen musst. Wie alle guten Männer es tun.“
„Aber ich bin kein Mann. Ich bin erst sechs Jahre alt.“
„Das ist wahr“, erwiderte Legna, „du bist noch ein Junge. Aber wie oft hast du mir schon gesagt, dass du gern ein Mann sein möchtest, genauso tapfer und stark wie dein Onkel? Du sagst, eines Tages wirst du der König aller Dämonen sein, so wie dein Onkel Noah. Richtig?“ Sie wartete, bis er widerstrebend nickte. „Was wärst du dann für ein König, wenn du dich feige vor der Verantwortung für deine Fehler drücken würdest?“
„Wahrscheinlich kein besonders guter“, meinte Daniel und senkte den Blick, damit seine Tante die Tränen in seinen tiefblauen Augen nicht sehen konnte, die zu seiner zitternden Stimme passten. „Aber ich wollte nicht absichtlich böse sein.“
Legna seufzte noch einmal. Ihr geliebter Neffe tat ihr leid.
„Das weiß ich. Ich glaube auch, dass du in deinem Herzen ein braver Junge sein willst.“
„Es bleibt nur zu hoffen, dass mein Sohn eines Tages seinem Herzen folgen wird“, ertönte eine trockene Bemerkung am Eingang zum Gewächshaus.
Legna richtete sich zu voller Größe auf und lächelte ihrer Schwester Hannah zu, die gerade hereinkam und ihren missratenen Sohn hochhob und ihn sich auf die Schultern setzte.
„Solange er aber so weitermacht und sich irgendwelche Dreistigkeiten herausnimmt, wie zum Beispiel, sich während der Versammlung des Großen Rates unter dem Tisch zu verstecken, muss er seine Strafe bekommen.“
„Oh Daniel, das hast du doch nicht etwa getan?“ Legna schüttelte den Kopf, und die Wangen des pausbäckigen kleinen Jungen färbten sich tiefrot.
„Aber das wollte ich ja gar nicht. Ich habe bloß mit Onkel Noah verstecken gespielt.“
„Ja, nur solltest du das nächste Mal deinem Onkel auch sagen, dass du mit ihm spielen willst, damit er es nicht auf diesem Wege herausfindet. Und jetzt erst mal heim und ab ins Bett; da kannst du dann über dein Benehmen nachdenken, bis dein Vater nach Hause kommt. Dann kannst du die Sache noch einmal mit ihm besprechen, denn mir hörst du ja offenbar nicht zu.“ Hannah stellte ihren Sohn wieder auf den Boden und gab ihm einen leichten Klaps auf den Po, um ihn in die richtige Richtung zu schicken. „Ab mit dir. Such deine Li-Li-Ni und auf nach Hause.“ Hannah suchte mit Hilfe ihrer mächtigen Sinne kurz nach dem Kindermädchen. „Sie ist bei deiner Schwester im Kinderzimmer. Wenn du im Bett bist und schläfst, wenn ich nach Hause komme, überlege ich es mir vielleicht noch einmal anders und erzähle deinem Vater doch nicht, wie ungezogen du gewesen bist.“
„Ja, Mammi“, versprach Daniel mit gesenktem Kopf. Er schlurfte aus dem Gewächshaus,
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