Schenk mir mehr als diese Nacht
mit farbenprächtigen Seidenbahnen. Obwohl nicht unbedingt hochgewachsen, stand die Braut so gerade und mit anmutig stolzer Kopfhaltung da, dass sie sehr groß wirkte. Ihr Gesichtsausdruck war eher hoch konzentriert als glücklich, was Sebastian angesichts der komplizierten Rituale einer traditionellen indischen Hochzeit gut verstand. Ihm erschien die Zeremonie wie eine schwindelerregende Aneinanderreihung unverständlicher Floskeln, jede noch gewichtiger als die vorangegangene. Alle Beteiligten folgten einem starren Verhaltenskodex. Das ging nun schon seit Tagen so, und heute Abend sollte das Ganze in einem besonders festlichen Ritual seinen Abschluss finden. In Räucherschalen brannten aromatische Kräuter und Essenzen und erfüllten die laue abendliche Luft mit luxuriösen, orientalischen Düften.
Sebastian hatte bereits die Ankunft des Bräutigams miterlebt, der auf einer Art goldener Sänfte zum Schauplatz des Geschehens getragen wurde. Gekleidet in eine kostbare, reichhaltig bestickte Tunika über weiten, pludrigen Seidenhosen und mit einer Blumengirlande um den Hals wurde er von seiner Sippschaft ehrerbietig begrüßt und in Empfang genommen.
Anschließend führte man ihm seine Braut zu, an deren Seite Frauen aus ihrer eigenen Familie schritten. Sebastian betrachtete fasziniert die kunstvollen Hennatattoos, die ihre Finger und Hände zierten. Mit dem glitzernden rotgoldenen Sari und der zugehörigen Kopfbedeckung, gehalten durch einen Stirnreif aus Perlen und Diamanten, wirkte sie wie eine indische Prinzessin aus einem längst versunkenen Jahrhundert.
In Erinnerung an den Blick, den sie getauscht hatten, zog sich sein Magen zusammen. Es war völlig unsinnig, aber Sebastian hätte schwören können, dass er so etwas wie Panik und Verzweiflung in den nachtdunklen, mit schwarzem Kajal umrahmten Augen gesehen hatte.
Das war sicher nur eine Täuschung, dachte er und schaute erneut zu der Braut, die anscheinend ruhig und gelassen ihre Blumengirlande mit dem Bräutigam tauschte. Aber zitterten ihre Hände nicht bei genauerem Hinsehen?
Was geht mich der Gemütszustand einer völlig Fremden an ihrem Hochzeitstag an? rief er sich selbst zur Ordnung. Hauptsache die ganze Veranstaltung geht glatt über die Bühne, und die Hochzeitsgesellschaft kommt nicht noch kurz vor dem Finale auf die Idee, die Feier an einen anderen Ort zu verlegen.
Dieses Hotel war nur eines in der langen Kette seiner Nobelhotels, die über die ganze Welt verstreut lagen: das ultraluxuriöse ‚Mumbai Grand Wolfe‘. Und er war extra aus England gekommen, um sicherzustellen, dass bei der Society-Hochzeit des Jahres alles tadellos klappte. Aneesa Adani und Jamal Kapoor Khan, zwei von Bollywoods berühmtesten Stars, würden sich heute und hier das Jawort geben.
Aus dem Dossier seiner indischen PR-Agentur wusste Sebastian, dass Aneesa Adani vor einigen Jahren zur indischen Schönheitskönigin gekrönt worden war. Danach folgte eine steile Modelkarriere, der sich eine Hauptrolle in einem Bollywoodstreifen anschloss. Inzwischen war sie ein Superstar mit einer beachtlichen Anzahl von Filmen, die in den Zuschauerhitlisten ganz oben rangierten.
Die Liebesromanze und Hochzeit mit dem männlichen Bollywoodliebling Jamal Kapoor Khan würde die beiden für die nächsten Jahre zum einflussreichsten Paar der indischen Kinoindustrie machen. Sie waren beide auf dem Zenit ihrer Karriere und absolute Publikumslieblinge mit einer Fangemeinde von mehr als einer Milliarde Menschen.
Sebastian warf einen schnellen Blick in die Runde und registrierte zufrieden bis an die Zähne bewaffnete Bodyguards und uniformierte Polizeioffiziere inmitten seines eigenen, perfekt trainierten Security-Teams.
Von dort, wo er stand, sah er den Mond über dem Arabischen Meer aufsteigen und das von Flutlicht angestrahlte ‚Gateway of India‘, Mumbais berühmtestes Wahrzeichen. Das Tor zu Indien … der indische Arc de Triomphe.
Instinktiv wartete er auf die Befriedigung, die er sonst in einem Moment wie diesem empfand. Eine tiefe Befriedigung angesichts der raren Gelegenheiten, sich innerlich zurückzulehnen und die Früchte seiner jahrelangen harten Arbeit zu genießen. Doch das Gefühl stellte sich nicht ein. Und erst in dieser Sekunde fiel ihm auf, dass er es schon seit Langem nicht mehr verspürt hatte.
Irritiert heftete er den Blick noch einmal auf das Brautpaar unter dem farbenprächtigen Baldachin, das inzwischen Seite an Seite auf zwei erhöhten, goldenen Sitzen thronte.
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