Schenk mir mehr als diese Nacht
mich im Handumdrehen eingewickelt hat! dachte sie selbst in diesem Moment noch mit widerwilliger Bewunderung. Er hatte sie auf den ersten Blick richtig eingeschätzt: das naive, behütete Ding auf der Suche nach Abenteuern und der großen, echten Liebe . Andersherum waren es sein überwältigender Charme und das demonstrative Interesse an ihr gewesen, die ihre niedersten Instinkte geweckt und befriedigt hatten. Dafür würde sie sich ein Leben lang schämen.
Ihr Abschweifen in die Vergangenheit und die bitteren Selbstvorwürfe wurden von der Aufforderung an das Brautpaar unterbrochen, sich zu erheben. Jetzt folgte der gewichtigste Teil der Trauungszeremonie, nach dem für Aneesa jede Chance auf Flucht für immer und ewig vorbei sein würde.
Die Enden von ihrem Sari und Jamals Kaftan wurden miteinander verknüpft. So sollten sie, Seite an Seite, sieben Mal um das heilige Feuer gehen, während ihnen sieben Segnungen zugesprochen würden, von denen sich jede auf einen anderen Aspekt ihrer Ehe bezog.
Mit jedem Schritt wuchs Aneesas Panik ins Unermessliche. Plötzlich war das taube Körpergefühl verschwunden, stattdessen begann sie angesichts der Ungeheuerlichkeit, die sie gerade beging, am ganzen Leib haltlos zu zittern.
Alle Kleinmädchenträume von der großen Liebe und der Märchenhochzeit waren längst zerschlagen. Aber wie konnte sie ihren ungeborenen Kindern eine so grausame Lüge zumuten?
In dieser atemlosen Sekunde dachte Aneesa an die durchdringenden blauen Augen des Fremden und fühlte sich von einer Kraft und Entschlossenheit durchströmt, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte. Hin- und hergerissen zwischen Schockstarre und wilder Panik agierte sie mit einer Ruhe und Selbstsicherheit, die sie selbst überraschte.
Sie blieb abrupt stehen, beugte sich hinab und löste den Knoten zwischen Jamals und ihrem Hochzeitsgewand.
„Aneesa, was tust du da?“, zischte Jamal ihr fassungslos zu.
Ohne ihn zu beachten, trat sie aus dem Kreis, der sich um die Feuerstelle zog, und ging ruhig auf ihren Vater zu, der ihr mit offenem Mund entgegenschaute. Liebevoll umfasste sie seine Hände mit ihren und zog sie an die Lippen.
„Es tut mir leid, Papa“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, „aber ich kann das nicht tun. Ich werde dir alle Auslagen ersetzen. Bitte verzeih mir …“
Dann wandte sie sich ab und floh.
Während sie rannte, so schnell sie es in ihrem engen Sari konnte, nahm Aneesa ihre Umgebung gar nicht wahr. Sie wusste nur, dass sie so weit wie möglich von der Hochzeitsgesellschaft entfernt sein musste, wenn diese aus dem ersten Schock erwachte. Denn sobald das geschehen war, würde ihr Vater eine ganze Armada von Sicherheitsleuten hinter ihr herschicken.
Ihre armen Eltern! Doch an sie durfte Aneesa jetzt nicht denken, denn ein Zurück gab es für sie nicht.
Mit klopfendem Herzen blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Nachdem sie mehrere Treppen im Servicetrakt des Hotels hinaufgelaufen war, stand sie vor einer Stahltür, hinter der sich wahrscheinlich der Dienstbotenfahrstuhl verbarg. Auf Knopfdruck öffnete er sich lautlos. Mit einem Stoßseufzer flüchtete sich Aneesa ins Innere und hechtete förmlich aus der Kabine, sobald die Lifttüren wieder auseinanderglitten. Flüchtig wunderte sie sich über die elegante Ausstattung des Vorraums, in dem sie nur eine weitere Tür sah. Leise drückte sie die Klinke herunter und spähte um die Ecke. Alles war still und keine Menschenseele zu sehen.
Offenbar war sie in einer leeren Suite gelandet. Nach dem eleganten Interieur und den vielen Türen im Innern der Suite zu urteilen, musste es sich um eine der Nobelresidenzen innerhalb des riesigen Hotels handeln.
Erleichtert, wenigstens fürs Erste gerettet zu sein, schlenderte Aneesa durch die ultramodern eingerichtete Küche, die im Dämmerlicht lag. Gleich dahinter schlossen sich ein großzügiger Essbereich und ein noch größerer Wohnraum mit direktem Zugang zur Terrasse an. Hinter der raumhohen Glasfront sah sie die Skyline von Mumbai in der untergehenden Sonne glitzern.
Und plötzlich dämmerte es ihr. Dies ist keine normale Luxussuite, sondern das Penthouse des Hotels!
Automatisch dachte Aneesa an ihre eigene Honeymoon-Suite mit dem riesigen Himmelbett, das über und über mit Rosenblättern bestreut war, und spürte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Als sie auf die Glastüren zuhastete und sie mit aller Kraft auseinanderschob, wäre sie beinahe über ihren bodenlangen Sari
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