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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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dann die Schwester. Sie fuhr sich mit der Hand durch das krause Haar.
    »Sind Sie sicher, dass er nicht einfach nur woandershin verlegt wurde?«, fragte der Mann.
    »Ganz sicher.«
    Er setzte sich auf das leere Bett.
    »Wenn es sie tröstet, er ist friedlich eingeschlafen«, sagte die Schwester mit perfekter Betonung und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter.
    »Von wegen friedlich!«, schrie Mirsad. »Der Mann hatte die ganze Nacht Schmerzen! Er hat gebrüllt und geschrien –«
    Die Schwester stand bereits nervös neben ihm, fingerte an dem Knebel herum.
    »Hören Sie nicht auf den Mann. Wir mussten ihn von der Station oben hierher verlegen, weil kein Platz mehr war.« Sie tippte sich mit dem linken Zeigefinger an die Schläfe und verdrehte die Augen.
    Der Mann stand auf, starrte beide an, unsicher, wem er glauben sollte.
    »Er hat nach einer Schwester gerufen, geheult wie ein Baby hat er, weil er wusste, dass er stirbt, und keiner von euch Wichsern ist auch nur den Gang runtergekommen, geschweige denn, dass jemand nach ihm geschaut hätte! Oder nach sonst jemandem!«
    Sie versuchte ihm den Knebel in den Mund zu stopfen, aber Mirsad schnappte mit den Zähnen nach ihr und knurrte wie Archibald.
    »Fass mich nicht an! Ich fick dich zu Scherben!«
    Sie kehrte zu dem trauernden Sohn zurück.
    »Kommen Sie mit, Sir«, sagte sie und nahm ihn am Arm. »Hier sind Sie nicht sicher.« Sie nutzte seine Verwirrtheit aus, um ihn schnell aus dem Zimmer zu führen, der Bussardmann blieb zurück und brüllte etwas von Menschen, die zerschlagen würden wie Schnapsgläser am Kamin. Er versuchte, sich von seinen Fesseln zu befreien. Kurz darauf trafen die Muskelprotze ein, lächelten schmierig, zogen die Vorhängezwischen den Betten zu und stellten den tobenden Mann, der jetzt nicht mehr zu sehen war, ruhig. Sie stellten ihn so gründlich ruhig, dass er erst am nächsten Tag gegen Mittag wieder aufwachte, woraufhin sie ihn erneut ruhigstellten, obwohl er keinen Mucks von sich gab.
    Später, in der Stille des Nachmittags, glitt eine zierliche junge Frau, der die Haare ins Gesicht hingen, wie auf einem quälend langsamen Fließband ins Zimmer, so geräuschlos, dass kaum jemand es überhaupt mitbekam. Sie trug einen rosafarbenen Schlafanzug, dessen Oberteil auseinanderklaffte und eine ihrer kleinen, spitzen Brüste entblößte. Die Nagelhaut an ihren Fingern war abgekaut. Sie ging gerade in Trance auf das Fenster zu, als eine Schwester sie einholte und ihr die Hände auf die Schultern legte.
    »Wir dürfen hier aber nicht rein«, sagte die Schwester sanft und drehte den Körper der Frau wieder Richtung Tür. Sie zog an dem rosafarbenen Stoff, um den geschwollenen Nippel zu bedecken.
    »Hallo Mama«, sagte das Mädchen und fuhr sich mit der Zunge in die Mundwinkel. Einen Augenblick lang sah Mustafa ihr Gesicht. Ihre toten Augen, die dunkelrote Öffnung ihres Mundes, die kleinen, zarten Nasenlöcher. Erst als sie auf den Boden spuckte, begriff er, wer sie war.

    »Runter! Runter!«, schreit Kralle, und wir lassen Steamboat in den Matsch fallen und gehen in Deckung. Drei oder vier Granaten treffen in rascher Abfolge, die nächste ungefähr zwanzig Meter entfernt.
    Oben auf dem Hügel verpufft Ninjas Rauchbombe, die bis eben unseren Rückzug verdeckt hat, mit letzten weißen Atemzügen.
    »Der Baum!«, brüllt Kralle durch den Regen unddeutet auf eine Eiche auf halbem Wege zwischen den Schützengräben.
    Wir packen Steamboat an den Schulterklappen, wir kriechen und zerren, kriechen und zerren. Wir kommen nur langsam voran. Die Tschetniks bombardieren flächendeckend, sparen nicht an Munition. Zwei oder drei Maschinengewehre stoßen die immer gleiche monotone Silbenfolge aus. Kugeln fliegen über uns hinweg. Unsere Nasen stecken im Matsch, wir schieben uns blindlings rückwärts.
    Ich krieche und krieche, und dann ist der Baum zwischen uns und denen. Ich verharre, mein Unterleib ist ein einziger Knoten. Kralle bleibt auch liegen. Ich kann mit dem Gesicht im matschigen Gras nicht tief genug einatmen und drehe mich um und blicke in den grausamen Himmel. Regentropfen werden größer und größer und treffen meine Lippen, meine Stirn, meine Wangen. Ich hechele wie Archibald, dann schiebe ich mich unter das Blattwerk, des Regens und des Beschossenwerdens überdrüssig.
    Etwas setzt sich mit der Gewalt eines Flashback vor Mustafas geistiges Auge. Er war an einem anderen Ort, in einem kleinen, kreisförmigen Park, der ganz von einer Straße

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