Scherbengericht: Roman (German Edition)
vor dem morgigen Tag.
Katha hatte einen unruhigen Schlaf. Mehrmals weckte ihn ihr Herumschlagen im knarrenden Bett, ihr Stöhnen und Seufzen – und dies seltsame, traumschwere »Wuuuusch, wuuuusch …« Wie von Meereswellen erfasst, dachte Martin, oder träumte es.
2
TREUGOTT
Als dem Treugott Lagler beim Schlachten seines schönsten Lammes ein Handgriff nach dem anderen misslungen war – und das im Morgengrauen des letzten Tages dieses Jahres, dieses Jahrhunderts, ja dieses zweiten Jahrtausends nach Christi Geburt –, konnte er sich nicht entschließen, ob er das als Fazit des gerade zu Ende gehenden Zeitalters oder als böses Omen für die nun anbrechende neue Epoche deuten sollte. Es fühlte sich aber ganz so an, als ob sein blutiges Missgeschick gleich beiden Weltperioden als Unstern dienen könnte.
Der Zwei-Zentner-Mann musste sich auf das blökende, heftig ausschlagende Jungtier werfen. Von der Decke des kahlen Schlachtraums verbreitete eine einzige Glühbirne etwas Licht. Ein heißer Strahl klatschte Treugott ins Gesicht, in die Augen. Erst der dritte Schnitt durch die Gurgel war tief genug und ließ das Lamm zuckend erschlaffen. Mit gespreizten Schenkeln kniete er über dem Tier und war froh, dass ihn niemand so sehen konnte, erbärmlich keuchend, als hätte er zum ersten Mal – und nicht schon Hunderte Male – ein Schaf geschlachtet. Noch dazu ein Lamm. Aber es hatte sich vorhin losgerissen, er hatte ihm nachspringen müssen, und da waren sie plötzlich wieder ausgebrochen, diese unerträglichen Schmerzen in den Hüftgelenken, die ihm oft wochenlang die Krücken aufzwangen. Erst nach wiederholten Fehlwürfen hatte er dem Tier die Schlinge über den Kopf ziehen können. Dann musste er es unter Verrenkungen seines Unterleibs, mit denen er den zustechenden Schmerzen auszuweichen suchte, in die Kammer zerren. Wie genau diese Viecher doch immer ahnen, was man mit ihnen vorhat. Ernst machen, umbringen. Wie konnte er nur vergessen, dass er ein Krüppel war? Ein noch nicht sechzig Jahre alter Krüppel! Vom lebenswarmen Lamm unter ihm strömte Tierempfinden in ihn über. Abgestochen fühlte er sich und war minutenlang nichts als gequälte Kreatur. Ernst machen, umbringen. Wie lange noch diese seit Jahrzehnten wiederholte Nötigung, der ererbte Zwang, die nahezu alltägliche Selbstüberwindung? Und wozu denn noch? Wir sind doch schon so gut wie tot.
Dann wurde er wieder Treugott, zog einen Haken durch die Sehnen der Hinterbeine, packte die kalten Eisenglieder einer Kette, hievte den tropfenden Tierkörper hoch, bis er in Kopfhöhe vor ihm pendelte. Er löste den Strick vom Hals und begann mit geübten Griffen und Schnitten sein Werk: köpfen, häuten, aufschlitzen, herauszerren, abtrennen, sortieren – in ein Metallbecken, in ein Sieb, in einen Abfalleimer. Die Verrichtungen mit dem vertrauten Messer gaben ihm die Sicherheit zurück. Er musste keinen einzigen Griff mehr wiederholen, um einen Fehler zu berichtigen. Bald darauf war das Lamm zu einem enthaupteten, gehäuteten, ausgenommenen Grillfleischkörper geworden – vorbereitet, um zum kulinarischen Mittelpunkt des morgigen Festes und Jubiläums zu werden. Abschließend rieb er mit blutigen Pranken ein Gemisch aus Salzlauge, zerquetschtem Knoblauch, gehacktem Rosmarin und Paprika in das Fleisch ein. Er wird das Lamm auf patagonische Art, im ganzen Stück, mit gespreizten Beinen und aufgerissenem Brustkorb, kopfüber an einem schräg in die Erde gerammten Eisenkreuz befestigt, mindestens vier Stunden lang vor einem Berg von Laubholzglut garen lassen. Zuerst die Innenseite der Glut zugewandt; danach, wenn sich die rosigen Rippen bräunen und schon kochendes Fett unter durchsichtigen Hautblasen blubbert, den Rücken. Dann wird er die feiernde, prostende Tischrunde unterm Lindenbaum durch ein Zeichen in erwartungsvolle Bereitschaft versetzen und beginnen, das Lamm nach seinen Kunstregeln zu tranchieren. Und jeder Gast wird, ganz nach dem vom Grillmeister festgelegten Zeremoniell, eine Folge verschiedener Portionen bekommen. Frau Clementine, das neunzigjährige Geburtstagskind, selbstverständlich nur vom butterweichen Lendenstück.
Treugott riss sich das Hemd vom Leib, wusch sich mit eiskaltem Wasser in einem großen Zementtrog und nahm die alte Lammfelljacke vom Haken. Er würde an diesem letzten Tag des alten Jahrtausends seinen Gästen nichts von diesem Missgeschick und seinen Schmerzen berichten. Auch seine düstere Deutung des gerade Erlebten als
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