Scherbengericht: Roman (German Edition)
Vorzeichen des neuen Zeitalters wollte er für sich behalten. Oder sollte er sie etwa Dr. Königsberg anvertrauen? Das Deuteln war schließlich eher Aufgabe eines Psychoanalytikers als die des gescheiterten Bauern, Sohnes und Erben des Hofgründers von Quemquemtréu, des Lagler Wastl selig aus dem fernen Grödnertal. Er vergrub seinen nackten Oberkörper in dem geflickten, schmierigen Kleidungsstück, das von seinem Vater stammte. Die Jacke roch, wie er sich einbildete, immer noch nach ihm. Das zottige, nach innen gewendete Fell fühlte sich warm an auf der nassen Haut, wohlig wie Frauenhaar.
Mit wankendem Gang trat er aus der Schlachtkammer. Der Vorplatz lag dämmrig und in schneidender Kälte vor ihm. Bertl, der alte Wachhund, zerrte an seiner Kette, wedelte heftig und schnupperte in die Richtung, aus der sein Herr gekommen war. Die Schmerzen waren weiterhin stark. Er verspürte keine Lust, sich mit dem winselnden Kettenhund abzugeben, oder gar nochmals umzukehren und ihm ein paar Abfälle zu holen. Später vielleicht. Aber er wollte auch nicht sofort ins Haus zurück, Rotraud schlief womöglich noch. Es war zu früh, sie mit seinem Badezimmerlärm und mit Radio Habana zu wecken. Gestern hatte sie bei Mensch ärgere Dich nicht gewonnen und es war spät geworden. Zuletzt hatte es einen Misston gegeben; kaum hatten die Königsbergs sich zurückgezogen, war es aus Frau Clementine empört hervorgebrochen: »Rotraud, du hast geschummelt – und du, Treugott, drückst auch noch beide Augen zu!« Und beim Verlassen der Wohnküche hatte sie nahezu keifend hinzugefügt: »Ich hab euer blödes Spiel langsam satt.« Vielleicht war Clementine Holberg aber nur deshalb so aufgebracht gewesen, meinte Treugott, weil ihr Herr Sohn und ihre Enkelin ihr Erscheinen auf der Silvesterfeier abgesagt hatten.
In den Vorplatz mit den mächtigen Nussbäumen, die der Vater gepflanzt hatte, mündeten die Tore des Maschinenschuppens, der Lagerscheune, die Veranda des neuen Gästehauses und der Vorgarten, der zum alten Wohnhaus führte. Ringsum erstreckte sich sein Gut: insgesamt fünfzig Hektar umzäuntes Land, auf halber Höhe eines von der Ortschaft aufsteigenden Hanges gelegen, der bis an den Fuß der schroffen Felswände des Piltriquitrón reichte. Diese grauen Mauern mit ihren Rissen und Klüften bauten sich zu einem lang gestreckten Bergmassiv auf. Treugott blickte in die Höhe. Pfeiler, Türme und Zacken hoben sich noch längst nicht klar vom Himmel ab; da und dort schimmerte allenfalls ein Schneefleck aus den Schründen. Die Sonne würde sich erst in zwei Stunden über den Kamm heben, doch ein Hahn hatte bereits gekräht und vom nahen Teiche her drang mehrmals, kurz an- und wieder abbrechend, Entengeschnatter.
Vor bald achtzig Jahren hatte der Vater, ein Bauernknecht aus Südtirol, diesen Boden geschenkt bekommen. Die argentinische Regierung wollte Patagonien besiedeln, aber unter der einheimischen Bevölkerung fand sich kaum einer bereit, in dieser abgelegenen Region patriotische Pionierarbeit zu leisten. Also begünstigte man arbeitswillige Einwanderer aus Europa. 1921 war der Lagler Wastl auf dem Bozener Walther-Platz nach einem Trachtenumzug der Südtiroler Schützen von einer Prügelbande faschistischer Squadristi arg zugerichtet worden. Und im Popolo d’Italia konnte er den »Duce« lesen: »Wenn die Deutschen verdroschen und zerstampft werden müssen, bevor sie Vernunft annehmen – wohlan, wir sind dazu bereit!« Also nahm er Vernunft an, und da die ersten Erfolgsberichte jener Auswanderer, die sich in den fruchtbaren Tälern der südlichen Anden angesiedelt hatten, bis an die Brennergrenze gedrungen waren, fasste er den Entschluss, sein Glück »in der Ferne« zu suchen.
Der Vater hatte dem Sohn später, allerdings nur in knappen Worten, davon erzählt, wie weit seine Erwartungen übertroffen worden waren. Zuerst, verwirrt noch von den Eindrücken der transatlantischen Schiffsreise und von der Hektik der Millionenstadt Buenos Aires, begann er im Verlauf einer viele Tage langen Fahrt durch dürre Steppe, Sand- und Steinwüste an seinem Ziel zu zweifeln. Aber dann, im damaligen Pionierort Quemquemtréu, traf er nicht nur auf eine heimatlich anmutende, dafür aber noch unerschlossene Bergwelt – man überließ ihm auch gleich fünfzig Hektar Land, einfach in dem Vertrauen, dass er, ein europäischer Bauer, schon das Richtige aus ihnen machen werde. Von einem Gendarmen begleitet, mit dem Blick auf die steilen Zacken, die ihn
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