Scherbengericht: Roman (German Edition)
Gendarmeriekaserne und der von Fritz Cirigliano und Siegmund Rohr angekurbelte Fremdenverkehr wuchsen, und dass eine bessere Straße gebaut worden war. Zu Wastls Zeiten, hatte man noch einen Tag bis zur nächsten Bahnstation reiten müssen, und ein Ochsenkarren mit seiner Ware brauchte zwei Wochen bis in die Stadt Bariloche. Heute konnte Treugott diese Strecken mit seinem Pick-up in weniger als zwei Stunden zurücklegen.
Dörrzwetschken und Apfelmost bereiteten die Laglers, Vater und Sohn, auf alte Art und nur für den Eigengebrauch zu. Das vertraute Obstlerbrennen allerdings hatte sich schon der Wastl, auf den Rat der alten Kolonisten hörend, sofort aus dem Kopf schlagen müssen: Es sei gefährlich, hatte man im erklärt, wenn sich unter den Landarbeitern herumspreche, dass da irgendwo ein Fässchen oder eine Kiste mit Schnaps gelagert werde. Schon mit dem Apfelmost gebe es Schwierigkeiten, wenn man den Leuten davon nicht gehörig ausschenkte. Und selbst das war nicht ohne Risiko.
Der Wastl hatte seinem Sohn nicht nur weitergeben können, was er von den eigenen Eltern im fernen Grödnertal mitbekommen hatte – Knödel essen, Watschen empfangen, Obst pflücken, Pferde aufzäumen, im Bach fischen, in die Berge steigen, überall mitschuften, erfinderisch alles reparieren –, sondern ihm schließlich auch diese blühende Landwirtschaft überlassen, schuldenfrei, mit Vieh, Maschinen, Hofgebäuden, Geschäftsverbindungen und einer alten Linde, tief in patagonischer Erde verwurzelt, gedacht als Stammessymbol künftiger Lagler-Geschlechter. Nach dem Baum hatte der Vater auch die Farm benannt: Chacra El Tilo – der Tilo-Hof. Die Silhouette des Lindenbaums zierte später die Aufkleber der Marmelade-, Honig- und Einmachgläser, der Obst- und Gemüsekisten, der Säcke mit Kartoffeln, Nüssen, Kastanien, Hagebutten und getrockneten Schwammerln, und nicht zuletzt die Türen des Lastwagens und des Pick-ups.
Als der schwer asthmatische Vater schließlich kaum noch die Wohnküche hatte verlassen wollen und nicht mehr mitbekam, dass man ihn bei Mensch ärgere Dich nicht einfach gewinnen ließ, hatte er das Gut seinem Sohn überschrieben. Die beiden Schwestern wurden in Geld ausbezahlt, und jede kaufte sich sofort einen fabrikneuen, unverwüstlichen Renault 12.
Der Erbe des Tilo-Hofes gedachte seiner Eltern immer mit Dankbarkeit. Der Vater war vor dreißig Jahren gestorben, zwölf Jahre später folgte, in hohem Alter und bereits in einer anderen Welt, die Mutter. Seine beiden älteren Schwestern hatten in die Ortschaft geheiratet, Männer von spanischer und libanesischer Herkunft, die von den Deutschsprachigen in der Gegend mit dem Sammelbegriff »die Hiesigen« bedacht wurden. Selbst wenn es nicht so gemeint war, etwas Abschätziges schwang da schon mit. Treugott gebrauchte diese Bezeichnung nie.
Er war als spätes Kind zur Welt gekommen. Die Mutter ging schon auf die vierzig zu und die Eltern hatten sich mit zwei Töchtern abgefunden. Nun aber, nach beschwerlichen letzten Schwangerschaftswochen, brachte die Lina einen gesunden Knaben zur Welt. Achteinhalb Pfund habe er gewogen, sofort kraftvoll gestrampelt und schmatzend die Mutterbrust genossen. Nur sein rechtes Beinchen schien ein bisschen kürzer geraten als das andere, und unter dem linken Schulterblatt konnte man einen winzigen Buckel fühlen. Doch sehen würde man den erst zwei Jahrzehnte später. »Treugott« hatte der Standesbeamte in Quemquemtréu den fremden Namen des Neugeborenen buchstabiert – statt Traugott –, aber da die meisten Einwohner der Ortschaft weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas anfangen konnten, begannen alle, ihn einfach »Trigo« zu nennen. Das spanische Wort für Weizen passte gut zu dem blonden Buben, er fühlte sich wohl damit, und selbst Rotraud nannte ihn später so, obwohl sie anfangs gar nicht gewusst hatte, was das bedeutete.
Zunächst hatten die Eltern ja noch gehofft, dass bei Treugotts allgemein kräftigem Wachstum auch das kürzere Bein aufholen würde. Der Arzt im Ort aber und danach ein Spezialist im Touristenzentrum Bariloche waren anderer Ansicht. Der Facharzt meinte, nachdem er Röntgenaufnahmen studiert und weitere Untersuchungen vorgenommen hatte, es gebe überhaupt keinen Grund zur Besorgnis: Der Fehler sei angeboren und beeinträchtige nicht die Gesundheit. Dem Kind stehe ein ganz normales Leben bevor, ein Orthopäde müsse nur von Zeit zu Zeit die Höhe der Schuhsohlen und Absätze nachbessern. Aber einen Riss,
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