Scherbengericht: Roman (German Edition)
dem Psychiater durchaus bewusst gewesen. Fast mit Stolz dachte er, welcher Kollege gleichen Ranges und in seinem Alter es wohl gewagt hätte, so weit zu gehen? Er konnte ihre scheinbetroffenen, scheininteressierten Mienen vor sich sehen, mit denen sie ihre jeweilige Mission zelebrierten. Das Schlimmste war immer ihr Auftreten »vor Ort«, die Begegnung face to face mit den Opfern – wenn man sie dabei beobachten konnte, wie sie hinter ihrer Helfermaske in hilflose und Hilfe erwartende Gesichter blickten. Schwer erträglich, diese Peinlichkeit.
Und dennoch hatte er damals bei Königsberg, nach der Manier des geübten Debattenredners, einen gefälligen Schlenker gesucht, um sein Geständnis abzurunden. Es war ihm aber nicht besonders gut gelungen: »Alle diese tief verwurzelten Vorurteile in mir sind natürlich nicht militant, vielmehr ganz zivilisiert, verinnerlicht, unter Kontrolle – im Verborgenen tickend«, hatte er versichert. »Nicht Ideologie oder Überbau, sondern ein latenter Keim. Von ihm gehen tausend Impulse aus, die in mein Denken hineinreichen. Dieser Keim: Von meiner Ratio her betrachtet ist er verächtlich, widerwärtig, abstoßend. Und doch wird er Ihnen gegenüber schon wirksam. Schon weiß ich vor allem, dass Sie Jude sind. Sehr angesehen in einem stark von Juden bestimmten Berufszweig. Schon ist mir auch Ihr Wissen, dass ich mit einer Jüdin aus galizischem Elternhaus verheiratet war, nur allzu wohltuend bewusst. Wie ja auch, dass Ihnen in diesem Zusammenhang mein Geständnis als irgendwie hinterhältig erscheinen muss. Und nach allem, was ich Ihnen über meine Mutter, meine Tochter und meinen Sohn verraten habe, werden Sie mir vermutlich noch eine verzwickte Variante von Ödipus-Elektra-Komplex attestieren wollen.«
Da hatte das Faltenspiel von Dr. Königsberg sich nun doch zu professionellem Ernst gesammelt. Endlich sagte er auch wieder etwas: »Lieber Martin, zu diesem letztgenannten Punkt werden Sie von mir nur Kritik an den altersstarren Theorien zu hören bekommen.« Und es klang tatsächlich schon wie die Einleitung zu einer längeren fachlichen Ausführung – doch der Psychoanalytiker hatte sich alsbald gefangen und nur gesagt: »Das ist ja ein beträchtliches Paket, das Sie mir da auf den Tisch werfen, lieber Martin. Einen ›Pakethaufen‹ würde ich eher sagen. Helfen Sie mir zunächst, mich zu erinnern, wie ihre Kinder heißen. Es waren doch zwei, glaube ich?«
Martin hatte ihn verblüfft angestarrt, aber dann schnell und gefasst geantwortet.
»Katharina, nach dem zweiten Vornamen meiner Mutter, und Gabriel, nach dem Vater meiner Frau.«
»Richtig, richtig, Sie hatten die Namen ja schon erwähnt. Entschuldigen Sie. Und wie alt sind die beiden?«
»Katha ist fünfundzwanzig. Sie verehrt und liebt mich. Gabriel ist zwei Jahre älter – und verachtet mich.«
Martin hielt die Saurus-Flasche gegen das Licht. Er hatte sie fast geleert. Die Nacht war kälter geworden, bemerkte er, als er das Fenster herunterließ, und vermutlich kam die unbestimmbare Bewegung, die er in der stillen, würzig riechenden Finsternis wahrnahm, von den Luftschüben der nahen Brandung. Das Ende des Satie-Spiels (Pianist: Reinbert de Leeuw) war ihm gar nicht bewusst geworden. Er stellte das leere Glas auf den Boden und setzte die Flasche direkt an. Auf das Motel zu bewegten sich ein paar lärmende Gestalten, die wohl in aufgeräumter Stimmung aus einer Fischerkneipe zurückkehrten. Es war spät, er sollte sich nun auch selbst in seine Jugendherberge verkriechen. Morgen musste es ja schon sehr früh losgehen, und es würde ein langer Tag, und dann noch eine lange Nacht werden, Silvesternacht.
Roberto Williams, jener sich im Internet selbst rühmende Revierschützer, der vorgab, Konversation mit den Walen führen zu können, hatte sich bereit erklärt, am frühen Morgen mit Martin und Katha aufs Meer hinauszufahren. Die Saison der Glattwale sei zwar schon vorbei, hatte er vorausgeschickt, aber einige Verspätete oder Reiseunwillige tummelten sich wohl immer noch im Golfo Nuevo: Docksider, Espuma, der einzige Albino, Josephine und Cassiopeia. Er werde sie am frühen Morgen mit seinem Boot hinausbringen. Schließlich wisse er ja, wer Dr. Martin Holberg sei … Billiger wurde der Spaß dadurch nicht. Aber Katha hatte darauf bestanden. Ihre emotionale Bindung an die verunglückte Prinzessin und diese Reise waren zu einem Ganzen geworden: Sie wollte zu all den Orten pilgern, die Lady Di während ihres
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