Scherbengericht: Roman (German Edition)
an die Tofana-Wände seiner Dolomiten erinnerten, waren sie zu dieser Stelle geritten, die bald zum Vorplatz der Farm werden sollte. Hier waren sie von den Pferden gestiegen, der Gendarm hatte sich breitbeinig im Gebüsch aufgepflanzt und ausführlich gebrunzt, und der Lagler Wastl hatte erst einmal begonnen, sich umzusehen. Damals stand noch vereinzelt Wald auf dem Hang. Von dem Plateau, das sie erreicht hatten, überblickte er das Tal, sah er hinunter auf die wenigen verstreuten Häuser und Gehöfte der entstehenden Ortschaft. An der gegenüberliegenden Talseite bedeckten dichte Buchenwälder die Hänge bis zu einer Höhe, wo sie in Matten und Geröllfelder übergingen. Auf die nackten Gesteinsmassen folgten Schneefelder bis zu den Gipfeln und Sätteln. Wolken kamen unablässig über die Kämme – bald wusste er, dass sie vom nahen Pazifik stammten und immerzu, von Westen nach Osten, über das schmale Territorium Chiles hinwegzogen.
Der neue Kolonist musste Pionierarbeit leisten. Erst einmal roden: mit Hilfe indianischer Taglöhner – in der Regel Mapuches – und mit riesenstarken Ochsen, die paarweise unter einem geschwungenen Holzjoch zusammengespannt gingen, und mit wühlenden Schweinen. Stück um Stück wurde erkennbar, wie sein urbarer Boden gestaltet war. Da gab es Buckel und Mulden, sanfte Abhänge zum Tal hinunter, auch flache Stellen, alles mit tiefer, humusreicher Erde bedeckt. Ein Bach schoss durch seinen Besitz: Bald säumten ihn Birken, Trauerweiden und Holundergebüsch, bald dämmte ein Ententeich seine Eile.
Der Lagler Wastl beriet sich mit den erfahrenen Kolonisten, sie alle Schiffbrüchige aus Übersee – oder eher »Reichsbrüchige« aus den untergegangenen Monarchien der Sultane, Zaren und Kaiser. Russen, Polen und Ukrainer, Syrer und Libanesen, Deutsche, Österreicher und Italiener hatten sich in dieses Andental wie auf eine Insel gerettet. Spanisch beherrschte er bald, hatte der Südtiroler Bub doch mit seiner Mutter und deren Eltern noch ladinisch sprechen können. Als die erste Blockhütte errichtet war und der Wastl in ihr einen harten Winter leidlich hatte überstehen können, ließ er die Demetz Lina, seine Braut, nachkommen. Sie heirateten unmittelbar nach ihrer Ankunft auf einem Standesamt in Buenos Aires; dazu hatte er sich bei ihrem Vater schriftlich verpflichten müssen. Bald entstanden in rascher Folge Gemüsegärten, Blumen- und Kräuterbeete; überall trieben sich Hühner, Enten, Gänse und Katzen herum, mümmelten Kaninchen hinter Maschendraht und tanzte Wäsche an der Leine. Recht bald kamen noch zwei Töchter dazu.
Im großen Garten hinter dem Wohnhaus hatten Lina und Wastl gleich zu Beginn ihres Ehelebens einen Lindenbaum gepflanzt. »Unser Stammbaum«, hatte Sebastian Lagler stolz bestimmt. Verwurzelte Bäume, verwurzelte Menschen – das gehörte doch zusammen!
Der Vater war das Kind einer alteingesessenen, seit vielen Generationen in Sankt Ulrich bekannten Bergbauernfamilie, die auf schrumpfendem Besitz verarmt war. Darum war er von Anfang an darauf bedacht, wie er sein neues Land vernünftig zu gliedern und zu bebauen habe. Auf dem Plateau folgte der Blockhütte bald das Wohnhaus, umgeben von allen anderen Gebäuden der Farm: Scheune, Ställe, Schlachtkammer, Werkstatt, Geräteschuppen, Gewächshaus und zuletzt der Unterstand seines ersten Traktors – eines kleinen, orangefarbenen Hanomag R 35, mit dem man noch ein halbes Jahrhundert später aushilfsweise würde ackern können. Den wärmeren, nach Norden abschüssigen Hang hatte Wastl zum Obstanbau bestimmt. Anfangs für den eigenen Verbrauch gedacht, war daraus, bei wachsenden Märkten, die vier Hektar große Obstkultur geworden, in der bis heute Kirschen und Äpfel für den Verkauf geerntet wurden, aber auch Zwetschken, Birnen, Weichseln und Marillen. Gegenwärtig steuerte die Obsternte fast ein Drittel zum Gesamteinkommen des Hofes bei. Der Obstanbau wurde zu einem besonders guten Geschäft, als die Bank der Provinz Chubut dem Erben Treugott Lagler einen Kredit für mittelständische Unternehmen gewährte und er sich damit einen gebrauchten Mercedes-Laster kaufen konnte. Er setzte den ältesten Sohn seiner Schwester Clara, den tüchtigen Luis Jalil, als Fahrer ein. Bald fuhren sie nicht nur die Produkte des Tilo-Hofes zum Markt – Obst vor allem, aber auch Nüsse, Kartoffeln, Kastanien und Brennholz –, sondern besorgten den Transport auch für andere Farmer im Tal. Hinzu kam, dass die Gemeinde, die
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