08 - Im Angesicht des Feindes
1
Charlotte Bowen dachte, sie sei tot. Sie öffnete die Augen in Kälte und Dunkelheit. Die Kälte war unter ihr und fühlte sich an wie die Erde in der Gartenurne ihrer Mutter, in der sich unter dem unablässigen Tropfen des Wasserhahns außen am Haus eine feuchte Stelle gebildet hatte, die grün war und muffig roch. Die Dunkelheit war überall. Drückend wie eine schwere Decke lag die Schwärze auf ihr, und sie kämpfte mit den Augen gegen sie an, um aus dem endlosen Nichts eine Form herauszuschälen, die ihr sagen würde, daß sie nicht in einem Grab lag. Anfangs rührte sie sich nicht. Sie streckte weder Finger noch Zehen aus, weil sie die Wände des Sarges nicht fühlen wollte, weil sie nicht wissen wollte, daß der Tod so war, während sie doch geglaubt hatte, er käme mit Heiligen und Sonnenglanz und schaukelnden und harfespielenden Engeln.
Sie lauschte angespannt, hörte jedoch keinen Laut. Sie schnupperte, aber es war nichts zu riechen außer dem Moder feuchter alter Mauern. Sie schluckte und nahm das flüchtige Aroma von Apfelsaft wahr. Der Nachgeschmack reichte, um die Erinnerung zu wecken.
Ja, er hatte ihr Apfelsaft gegeben. Er hatte ihr eine Flasche gereicht, mit aufgeschraubtem Deckel und feucht glänzenden Tröpfchen auf dem Glas. Er hatte gelächelt und einmal kurz ihre Schulter getätschelt. »Du brauchst keine Angst zu haben, Lottie«, hatte er gesagt. »Das würde deine Mama nicht wollen.«
Mama. Sie war es, um die es ging. Aber wo war sie? Was war mit ihr geschehen? Und Lottie? Was war mit Lottie geschehen?
»Es hat einen Unfall gegeben«, hatte er gesagt. »Ich soll dich zu deiner Mama bringen.«
»Wohin?« hatte sie gefragt. »Wo ist Mama?« Und dann, lauter, weil sich ihr Magen plötzlich ängstlich verkrampft hatte und ihr die Art, wie er sie ansah, gar nicht gefallen hatte:
»Sagen Sie mir, wo meine Mama ist. Sagen Sie es mir. Auf der Stelle!«
»Ist ja gut«, hatte er hastig versichert und sich dabei umgesehen. Genau wie ihrer Mama war ihr lautes Benehmen auch ihm peinlich. »Beruhig dich, Lottie. Sie ist in einem Gästehaus der Regierung. Du weißt doch, was das ist?«
Charlotte hatte den Kopf geschüttelt. Sie war ja erst zehn Jahre alt und hatte wenig Ahnung, was die Regierung eigentlich tat. Für sie bedeutete »in der Regierung sein« nur, daß ihre Mutter jeden Morgen vor sieben aus dem Haus ging und meistens erst nach Hause kam, wenn sie selbst längst schlief. Ihre Mutter fuhr in ihr Büro am Parliament Square. Sie ging zu Besprechungen im Innenministerium. Sie ging ins Unterhaus. Freitag nachmittags hielt sie Sprechstunde für ihren Wahlbezirk in Marylebone, während Lottie, in ein Zimmer mit gelben Wänden abgeschoben, in dem gewöhnlich der Exekutivausschuß des Wahlbezirks tagte, ihre Schularbeiten machte.
»Benimm dich«, pflegte ihre Mutter zu sagen, wenn Charlotte am Freitagnachmittag nach der Schule eintraf, und mit vielsagender Kopfbewegung auf das gelbe Zimmer zu weisen.
»Ich möchte keinen Mucks von dir hören, solange wir hier sind, verstanden?«
»Ja, Mama.«
Darauf pflegte ihre Mutter zu lächeln und zu sagen: »Schön, jetzt gib mir einen Kuß und drück mich einmal ganz fest.« Ihr Gespräch mit dem Gemeindepfarrer oder dem Pakistani aus dem Lebensmittelgeschäft in der Edgware Road oder dem Grundschullehrer oder jedem anderen, der gerade zehn Minuten der kostbaren Zeit seiner Abgeordneten für sich abzweigen wollte, unterbrechend, drückte sie Lottie in einer steifen, schmerzhaften Umarmung an sich, gab ihr einen Klaps auf den Po und sagte: »Ab mit dir.« Dann wandte sie sich mit einem Lächeln - »Kinder!« - wieder ihrem Gesprächspartner zu.
Die Freitage waren die schönsten Tage. Nach der Sprechstunde fuhr Lottie mit ihrer Mutter zusammen nach Hause und erzählte ihr, was sie die Woche über getrieben hatte. Ihre Mutter hörte zu. Sie pflegte zu nicken, Lottie ab und zu das Knie zu tätscheln, dabei aber, knapp am Kopf des Chauffeurs vorbei, unverwandt zur Straße hinauszublicken.
»Mama«, sagte Lottie dann wohl nach einer Weile mit einem gequälten Seufzer, weil es ihr nicht gelang, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter von der Marylebone High Street auf sich selbst zu lenken. Mama brauchte doch gar nicht auf die Straße zu schauen. Sie fuhr doch gar nicht selbst. »Ich rede mit dir. Wonach schaust du dauernd?«
»Ich gebe Obacht, Charlotte. Und ich würde dir raten, das auch zu tun.«
Aber anscheinend hatte sie nicht genug Obacht gegeben. Doch ein
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