Scherbenparadies
Pferdeskelett auf Jeverssand genau zu dem Zeitpunkt verschwunden war, als Hauke einem zwielichtigen Händler den bis aufs Skelett abgemagerten Schimmel abgekauft hatte. Ein Gefühl von nahendem Unheil stellte sich ein. Nicht nur in der fiktiven Welt dieser Novelle, sondern auch ganz real.
Um neun brachte Sandra Vanessa zu Bett und erzählte ihr ein Märchen. Das allabendliche Ritual. Dann machte sie das Licht aus und zog mit dem Reclamheft ins Wohnzimmer um. Während sie las, lauschte sie auf jedes Geräusch. Schloss jemand die Tür auf? Kam Laura? Wirkte die Drohung, zum Jugendamt zu gehen? Doch sie hörte nur den Fernseher aus der Nachbarwohnung, das Bellen der Hunde von gegenüber, das ferne, kaum wahrnehmbare Rumpeln der Fahrstühle und ab und an Stimmen auf dem Flur.
Es war kurz nach elf, als Sandras Handy klingelte. Auf dem Display erkannte sie Lauras Nummer. »Hi Mama. Wo bist du?«
»Bei Ulf natürlich. Meine Süße.« Lauras Stimme klang schleppend.
»War klar. Vielleicht sagst du mir auch, wo das ist, wo du jetzt wohnst.« Eigentlich hatte Sandra sich vorgenommen, bei diesem Telefonat ruhig zu bleiben. Doch schon giftete sie herum. Laura brauchte meistens nur ein paar Worte, um sie auf die Palme zu bringen.
»Wo ich wohne? Meine Güte. Ich wohne daheim. Bei euch. Wo denn sonst. Nur weil ich mal bei Ulf übernachte…«
»Mal . Du bist gut. Wär schön, wenn du mal wieder hier bei uns auftauchen würdest!«
Ein Schnauben klang durchs Telefon. »Du verwechselst was.« Laura nuschelte. War sie betrunken? »Ich bin nicht siebzehn und du nicht meine Mutter…«
»Ich verwechsele was!« Sandra sprang vom Sofa hoch. »Ich!«
»Reg dich ab. Morgen bin ich wieder da und kümmere mich um meine beiden kleinen Mädchen. Aber heut’ kümmere ich mich um mich.« »Und um mich«, hörte Sandra Ulf im Hintergrund. Etwas klirrte. Wahrscheinlich Bierflaschen. Ehe Sandra etwas erwidern konnte, war das Gespräch beendet. Laura hatte aufgelegt.
Vor dem Fenster dehnte sich die Nacht. Lichter funkelten wie Sterne ferner Galaxien. Der Raum schien sich zu weiten, die Wände schienen abzurücken, sich aufzulösen, zu einem schwarzen Nichts zu werden, das Sandra in ein kosmisches Rauschen einhüllte, das in ihren Ohren dröhnte und jeden klaren Gedanken überstrahlte, bis nur noch blanke Panik sie erfüllte und einen kurzen Augenblick der Gedanke allzu verlockend war, einfach vom Balkon zu springen.
5
Sven nervte langsam. Schon wieder eine SMS von ihm. Sieh es mir nach, wenn ich weine… Sie stöhnte auf, als sie das las. So was von peinlich, wie er sich da in den Staub warf und in Selbstmitleid suhlte. Hatte er denn gar keine Selbstachtung? Weshalb schickte er ihr diese Zeile aus einem Xavier-Naidoo-Song? Dachte er echt, auf diese Weise könnte er sie zurückerobern? Sieh es mir nach, wenn ich weine! Es war nicht zu fassen. Mensch, Sven! Waschlappen. Und in den war sie mal verliebt gewesen.
Sie drückte die SMS weg, steckte das Handy ein, seufzte gelangweilt und griff nach dem Pappbecher Cola, den sie sich bei McDonald’s geholt hatte. Sie saß auf einer Bank am Rande einer Lauffläche in der ersten Etage des Einkaufszentrums und überlegte, ob sie Sven genau das antworten sollte, was sie eben gedacht hatte. Sei ein Mann und kein Weichei! Doch das war wahrscheinlich nicht sehr schlau. Wenn sie auf Svens Kontaktversuche reagierte, würde er sich an ihr festsaugen wie ein Blutegel. Doch wenn sie sich tot stellte… vielleicht war das auch nicht die richtige Strategie? Sven war in mancher Hinsicht ziemlich nützlich. Er hatte ein Motorrad und bekam jederzeit das Auto seiner Mutter. Schon oft hatte sie sich von ihm rumkutschieren lassen. Außerdem zahlte er meistens die Kinobesuche und hinterher bei McDonald’s Cola und Hamburger. So konnte sie ihr spärliches Taschengeld für sinnvollere Dinge ausgeben. Zum Beispiel dafür. Die Plastiktüte, die neben ihr auf der Bank lag, knisterte, als sie danach griff. Im selben Moment blieb jemand vor ihr stehen. Sie blickte auf. Es war Rick. Svens bester Kumpel. Ausgerechnet. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. »Hi, Rick.«
»Hi. Wie geht’s?« Lässig schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans. Dunkle Haare lugten unter der Kapuze des Hoodys hervor. So dunkel wie seine Augen.
»Passt schon.« Sie hatte echt keine Lust, diese Konversation zu vertiefen.
Mit dem Fuß schob er ein Tempo weg, das jemand hatte fallen lassen. »Sven geht’s echt mies. Aber das interessiert dich
Weitere Kostenlose Bücher