Schicksalsmord (German Edition)
haben für die Tatzeit ein lückenloses Alibi. Die aufmerksame Nachbarin hat sie mit dem Taxi ankommen sehen, sie hat sich fast eine dreiviertel Stunde lang ausführlich mit Ihnen unterhalten und Sie danach beobachtet, wie Sie auf der Terrasse auf und ab gegangen sind, bis ihre Schwester auftauchte. Wozu misstrauische alte Damen doch gut sein können!“ Sie probierte ein aufmunterndes Lächeln.
Mein Herz tat einen schmerzhaften Sprung und in meinem Kopf rasten die Gedanken. Das stimmte doch überhaupt nicht! Wie konnte die Frau behaupten, mich die ganze Zeit beobachtet zu haben, wo ich doch mindestens eine halbe Stunde abwesend gewesen war? Oder war das etwa eine Falle? Wollten die Beamten nur sehen, wie ich reagieren würde? Ich starrte weiter auf die Genesungskarte mit der Katze und wusste plötzlich die Antwort. Die Katze! Die jagende Katze vor der Terrasse, die immer wieder den Bewegungsmelder ausgelöst und das Licht am Brennen gehalten hatte. Deren Schatten ins Riesenhafte vergrößert über die Hauswand gehuscht war. Sie war noch da gewesen, als ich aus der Kanzlei zurückkehrte. Die Nachbarin musste angenommen haben, ich sei es gewesen, die da die ganze Zeit vor dem Haus auf und ab ging, bis sie Lydia ankommen sah und uns miteinander reden hörte. Und Lydia war Opfer ihrer eigenen Eitelkeit geworden. Es lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, jemand könnte uns beide verwechselt haben. Daher war sie nicht auf den wahren Zusammenhang gekommen. Weil sie die Aussage der Zeugin nicht entkräften konnte, hatte sie hoch gepokert und ihre Anwesenheit in der Kanzlei fälschlich zugegeben, allerdings nur, um mich dadurch um so schwerer zu belasten.
Der Raum wirkte plötzlich wieder normal und ich atmete tief durch. Langsam wendete ich den Kopf und sah Frau Trostmann fest in die Augen. „Ja“, sagte ich leise „so ist das gewesen. Ich habe die ganze Zeit über hinter dem Haus gewartet.“
Die Beamtin lächelte sanft. „Frau Lange, Sie müssen im Prozess gegen Ihre Schwester nicht aussagen. Da Sie noch krank sind, werden Sie ja vermutlich nicht einmal daran teilnehmen. Es sei denn, Sie wollten das unbedingt und würden sich in 14 Tagen schon wieder stark genug fühlen.“
„Nein“, sagte ich entschieden. „Ich fühle mich noch nicht stark genug. Sobald ich das Krankenhaus verlassen darf, möchte ich zur Kur fahren.“
Vom Fenster her kam jetzt ein zufriedenes Schnaufen, die Stationsärztin strahlte mich an. „Endlich werden Sie vernünftig“, kommentierte sie meinen Entschluss. Im Verlaufe des Tages äußerten sich alle, die bei mir vorbeischauten, in die gleiche Richtung. Am meisten freute sich Martina. Den Zustand völliger Entspanntheit, in dem sie mich antraf, führte ich nicht nur auf das Beruhigungsmittel zurück, das mir die Stationsärztin vorsorglich erneut verabreicht hatte. Ich war einfach mit mir im Reinen. Von dem Gespräch mit der Polizei und Lydias ungeheuerlichen Anschuldigungen gegen mich erzählte ich Martina nichts. Dafür würde später noch Zeit sein, jetzt wollte ich nur in Ruhe gesund werden und meine Kur planen. Martina versprach weiterhin regelmäßig bei Mutter vorbeizuschauen. Obwohl das, wie sie lachend hinzusetzte, gar nicht mehr so dringend erforderlich sei. Mutter hatte sich seit dem Umzug sehr zum Positiven verändert. Sie hatte in der Wohnanlage einen Kreis gleichaltriger Freundinnen gefunden, mit denen sie sich regelmäßig traf und viel unternahm. Anfangs hatte sie die Kontakte abgewehrt, bis ihr bewusst wurde, dass keine der Frauen indiskrete Fragen nach Lydia stellte und alle gemeinsam sogar dafür sorgten, sie vor der Neugier Anderer abzuschirmen. Als spürbaren Ausdruck ihres neuen Lebensgefühls hatte auch sie mir ausdrücklich zu der Kur geraten.
Da ich entschlossen war, keine weitere Zeit mit Grübeleien zu verschwenden, bat ich Martina, mir etwas zum Lesen mitzubringen. Allerdings bitte keine schwere Lektüre.
Martina grinste. „Fürstenromane vielleicht?“
„Also das nun doch nicht“, meinte ich. „Märchen wären allerdings nicht schlecht, ich habe da einen gewissen Nachholbedarf.“ Ich wusste, dass Martina Märchenbücher sammelte und sich auf dem Gebiet ziemlich gut auskannte.
„Ausgezeichnete Wahl“, lobte Martina. Gleich morgen würde sie mir eine Auswahl mitbringen.
Eine Frage wollte ich dann aber doch sofort loswerden. „Sag mal, was bedeutet es im Märchen eigentlich, der goldene Schlüssel von jemandem zu sein?“
Martina schaute
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