Schiffbruch Mit Tiger
und Wasser und Unterschlupf hat? Die Bäume bestanden aus demselben Fleisch fressenden Stoff, doch ihr Säuregehalt war weit niedriger, ein sicherer Zufluchtsort für die Nacht, wenn der Rest der Insel brodelte. Aber als die Person erst einmal tot war und sich nicht mehr bewegte, musste der Baum den Körper langsam umschlungen und verdaut haben, den Knochen so lange die Nährstoffe entzogen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Im Laufe der Zeit wären auch die Zähne noch verschwunden.
Ich sah mich um und betrachtete die Algen. Bitterkeit erfüllte mein Herz. Statt der leuchtenden Verheißung des Tages sah ich jetzt nur den nächtlichen Verrat.
»Zähne«, murmelte ich. »Nichts weiter als ZÄHNE !«
Bei Tagesanbruch stand mein Entschluss fest. Lieber wollte ich in See stechen und auf der Suche nach Meinesgleichen untergehen als auf dieser mörderischen Insel ein einsames Halbleben führen, bei dem es dem Körper gutging, obwohl die Seele längst tot war. Ich füllte sämtliche Vorratsbehälter mir frischem Wasser und trank wie ein Kamel. Ich stopfte mich den ganzen Tag über mit Algen voll, bis mein Magen nichts mehr aufnehmen konnte. Ich tötete und häutete so viele Erdmännchen, wie ich im Stauraum und am Boden des Rettungsboots unterbringen konnte. Ich sammelte tote Fische aus den Teichen. Mit dem Beil hackte ich ein großes Bündel Algen ab und band es mit einem Seil am Boot fest.
Ich konnte Richard Parker nicht im Stich lassen. Wenn ich ihn zurückließ, war sein Schicksal besiegelt. Er würde die erste Nacht nicht überleben. Wenn ich bei Sonnenuntergang allein in meinem Rettungsboot säße, würde ich wissen, dass er bei lebendigem Leibe verbrannte. Oder dass er sich ins Meer gestürzt hatte, wo er ertrinken würde. Ich wartete auf seine Rückkehr. Ich wusste, er würde sich nicht verspäten.
Als er an Bord war, stieß ich ab. Ein paar Stunden lang hielt die Strömung uns in der Nähe der Insel. Die Geräusche des Ozeans beunruhigten mich. Und ich war nicht mehr an das Schaukeln des Bootes gewöhnt. Die Nacht verging sehr langsam.
Am Morgen war die Insel verschwunden, genau wie die Algen, die wir im Schlepp gehabt hatten. Als die Nacht kam, hatten sie mit ihrer Säure das Seil aufgelöst.
Die See war schwer und der Himmel grau.
Kapitel 93
Ein großer Überdruss überkam mich, denn meine Fahrt war so sinnlos wie das Wetter. Aber das Leben wollte mich nicht verlassen. Der Rest dieser Geschichte ist nichts als Kummer, Schmerz und zähes Aushalten.
Das Hohe lockt das Niedere, das Niedere das Hohe. Und jeder, der sich in so elender Lage fände, wie ich mich fand, würde in seinen Gedanken nach Höherem streben. Je tiefer man steht, desto höher hinauf will der Geist. Es war nur natürlich, dass ich mich, hoffnungslos und verzweifelt, wie ich in meinem endlosen Leiden war, Gott zuwandte.
Kapitel 94
Als wir Land erreichten, Mexiko, um genau zu sein, war ich so schwach, dass ich kaum noch die Kraft hatte, mich darüber zu freuen. Die Landung war sehr mühsam. Fast wäre das Rettungsboot noch in der Brandung gekentert. Ich warf die Treibanker aus - was noch von ihnen übrig war -, in ganzer Breite, damit wir im rechten Winkel zu den Wellen blieben, und zog sie sogleich ein, wenn ein Wellenkamm uns erfasste. Auf diese Weise, durch Auswerfen und Einholen der Anker, ritten wir auf den Wellen ans Land. Es war gefährlich. Aber einmal erwischten wir eine Welle in genau dem richtigen Augenblick, und sie nahm uns ein großes Stück mit, über die hohen und dann in sich zusammenstürzenden Wasserwände hinaus. Ein letztes Mal holte ich die Anker ein, und das letzte Stückchen Wegs trieb die Strömung uns an Land. Mit einem Knirschen kam das Boot im Sand zum Stehen.
Ich hangelte mich an der Bootswand herunter. Ich traute mich nicht loszulassen, fürchtete mich, dass ich so kurz vor der Rettung im halbmeterhohen Wasser ertrinken würde. Ich blickte hinüber zum Ufer, um zu sehen, wie weit es noch war. Dieser Blick bescherte mir zugleich eins meiner letzten Bilder von Richard Parker, denn in just diesem Moment sprang er über mich hinweg. Ich sah seinen Körper, so voller Leben, lang ausgestreckt in der Luft über mir, ein flüchtiger, pelziger Regenbogen. Er landete im Wasser, die Hinterbeine gespreizt, den Schwanz in die Höhe gereckt, und von da war er mit einigen wenigen Sätzen am Strand. Er lief zunächst nach links, und seine Pranken hinterließen Abdrücke im feuchten Sand, dann überlegte er es sich
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