Karrieresprung
1
Stephan Knobel lehnte sich im Besucherstuhl vor Löffkes Schreibtisch zurück. Angespannt schlug er die Beine übereinander und hielt die Hände gefaltet, gab sich aufmerksam und zugleich gelassen. Mal bejahte er mit Gesten und Worten, mal fragte er interessiert und höflich nach und bezog bei Gelegenheit Position. Er servierte konventionell kompatible Ansichten, zeigte sich dankbar und blieb unkompliziert.
Löffke rief Knobels wichtigste Stationen ab und Knobel rekapitulierte folgsam Schulzeit, Abitur, Jurastudium und seine Hochzeit mit Lisa vor knapp einem Jahr. Er gliederte sein unauffälliges Leben, nahm dankend die angebotene Zigarette und bemerkte mit schüchternem Lächeln, dass er eigentlich gar nicht mehr rauche. Doch die Zigarette entkrampfte und bewies zugleich Spuren eines Lasters. Knobel dachte, dass es gut sei, sich in kleinen Dingen nicht zu prinzipientreu zu zeigen.
Scheu widerstand er Löffkes musterndem Blick, blickte in dessen rotes, schon am Morgen verschwitztes Gesicht und betrachtete fast andächtig dessen fleischige, an einer Zigarette saugende Lippen.
»Wenn Sie sich bewähren, werden wir Sie in ein paar Jahren zum Sozius machen«, schloss Löffke. »Dann gehören Sie richtig dazu. – Bis dahin sind Sie Angestellter.«
Knobel dankte für die gebotene Chance und versicherte schnell, die Sozietät anzustreben, aber das vorgegebene Ziel blieb ebenso konturenlos wie der Weg, der zu diesem Ziel führen sollte. Sein Gelöbnis, das Beste zu geben, suchte einen Bezugspunkt und fand ihn nicht.
Löffke nickte befriedigt, drückte seine Zigarette aus und begleitete ihn hinaus.
»Unsere Kanzlei hat drei Etagen«, erklärte Löffke auf dem Flur. »Hier im Erdgeschoss sitzen der Senior und die drei anderen Sozien.«
Kurz vor Weihnachten hatte ihn der Kanzleisenior Dr. Hübenthal in seinem ostwärts zur Gartenseite liegenden Arbeitszimmer empfangen. Der Senior hatte Knobel an die Verandatür geführt und davon geschwärmt, wie das Sonnenlicht im Sommer in das Zimmer flutete, sich auf dem Parkett spiegelte und den Raum bis an die Stuckdecken ausleuchtete.
Dr. Hübenthals Büro trug die Nummer 101. Es war das frühere Gesellschaftszimmer der nun als Anwaltskanzlei genutzten Villa. Das stattliche Jugendstilgebäude an der Prinz-Friedrich-Karl-Straße im Osten der Dortmunder Innenstadt galt als gute Adresse für die gehobene Klientel. Knobel hatte das Gebäude mit Ehrfurcht betreten und Dr. Hübenthals Büro bewundert, den massiven Schreibtisch bestaunt, die darauf aufgetürmten aufgeschlagenen Bücher betrachtet, auch den dunklen Regalwänden seinen Respekt gezollt, in die sich juristische Periodika und gebundene Einzelwerke zwängten. Alles in diesem Raum diente mächtig, stumm und bleiern Dr. Hübenthal, dessen kleine hagere Statur hierzu im eigentümlichen Gegensatz stand. Eloquent und im Auftreten verbindlich, verstand er es, seine Gesprächspartner unter der ständigen Observation seiner wachen Augen zu fesseln, dabei strahlte sein gefurchtes Gesicht eine faszinierende patriarchalische Strenge aus.
Dr. Hübenthal hatte flüchtig durch seine Bewerbungsunterlagen geblättert, sich zufrieden gezeigt, sodann Knobels Gehaltswunsch mit mildem Nachdruck nach unten korrigiert und nach der erlösenden Zusage, dass man es miteinander versuchen solle, die Erörterung aller weiteren Details Löffke übertragen.
Dieser machte ihn anschließend in der Kanzlei bekannt. Sie besuchten jedes Anwaltsbüro, jedes Sekretariat, und Knobel schüttelte Hände und spulte sein unverbindliches Begrüßungslächeln ab. Es war ein wechselndes Willkommenheißen und Danken, erst in den 100er-Zimmern im Erdgeschoss, dann in den 200er-Räumen im ersten Stock und schließlich, als sie über eine mit Linoleum belegte schmale Holztreppe in das Obergeschoss gelangt waren, auch in den 300er-Zimmern. Im Gegensatz zu den unteren Geschossen gab es hier nur bescheiden eingerichtete kleine Büros und den mit Regalen und Schränken gefüllten Archivraum. Die Luft dort war stickig, roch nach altem Papier und der Elektronik des leise brummenden Fotokopierers.
Andächtigt maß Knobel die alten Holzschränke, die zentnerschwer die aktenmäßige Seele der Kanzlei bargen und mit jedem neu eingefächerten Vorgang deren Reichtum mehrten. Ihm schien, dass das Archiv und das Büro 101 die eigentlichen Pole dieses Hauses waren, die ein geheimnisvolles System kommunizierender Röhren miteinander verband. Er verweilte bei dem Gedanken, all die
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