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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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noch einmal von Grund auf neu zu orientieren.
    Doch selbst Tiere, die im Zoo zur Welt gekommen sind und die Wildnis nie gesehen haben, Tiere, die bestens an ihr Leben im Gehege angepasst sind und Menschen nicht als Bedrohung empfinden, geraten bisweilen in eine Erregung, die sie zu Fluchtversuchen treibt. In jedem lebendigen Wesen gibt es eine Spur Irrsinn, die sich in unerwartetem, manchmal unerklärlichem Verhalten äußert. Dieser Irrsinn kann nützlich sein, er ist notwendig für die Fähigkeit, sich anzupassen; ohne ihn würde keine Tierart überleben.
    Aber ob nun irrsinnig oder nicht, ganz gleich aus welchem Grunde ein Tier ausbrechen will, sollte eines den Zookritikern klar sein: Tiere fliehen nicht
irgendwohin,
sondern sie fliehen
vor etwas.
Etwas in ihrem Territorium hat ihnen Angst eingejagt - das Eindringen eines Feindes, der Angriff eines Artgenossen, ein Geräusch - und hat sie in die Flucht getrieben. Der Fluchtinstinkt gewinnt die Oberhand. Im Zoo von Toronto - ein sehr schöner Zoo übrigens - habe ich gelesen, dass Leoparden aus dem Stand sechs Meter hoch springen können. Die Mauer auf der Rückseite unserer Leopardengrube in Pondicherry war nur fünf Meter hoch; Rosie und Copycat sind also anscheinend nicht deswegen dort geblieben, weil sie nicht herauskonnten, sondern weil sie keinen Grund hatten zu gehen. Ein Tier, das aus dem Zoo flieht, begibt sich vom Bekannten ins Unbekannte - und wenn es etwas gibt, was ein Tier wirklich hasst, dann ist es das Unbekannte. Entflohene Tiere verstecken sich in der Regel an der ersten Stelle, die ihnen Sicherheit verspricht, und gefährlich werden sie nur dem, der ihnen dabei in die Quere kommt.

Kapitel 11
    Nehmen wir zum Beispiel den Fall des schwarzen Leopardenweibchens, das im Winter 1933 aus dem Züricher Zoo entwich. Sie war noch nicht lange im Zoo und vertrug sich, soweit man sah, mit dem männlichen Leoparden. Spuren von Prankenhieben ließen aber doch auf ein angespanntes Eheleben schließen. Bevor eine Entscheidung gefällt war, was weiter getan werden sollte, zwängte sie sich durch ein Loch in ihrer Käfigdecke und entschwand in die Nacht. Als bekannt wurde, dass eine wilde Raubkatze sich irgendwo in der Stadt versteckt hielt, geriet die Bürgerschaft in Aufruhr. Fallen wurden aufgestellt und Jagdhunde losgelassen. Aber die befreiten den Kanton nur von den wenigen streunenden Hunden, die es dort gab. Zehn Wochen lang fand sich keine Spur von dem Leoparden. Schließlich stieß ein Gelegenheitsarbeiter auf ihn, unter einer Scheune vierzig Kilometer vor der Stadt, und erschoss ihn. In der Nähe wurden Überbleibsel von Rehen gefunden. Dass eine große, schwarze tropische Katze über zwei Monate lang im schweizerischen Winter überleben konnte, ohne dass jemand sie sah, und dass diese Katze nicht im Traum daran dachte, jemanden anzugreifen, zeigt, dass Tiere, die aus einem Zoo entweichen, keine entflohenen Sträflinge sind, sondern einfach nur Geschöpfe der Natur, die einen Platz zum Leben suchen.
    Und das ist nur einer von vielen Fällen. Wenn Sie eine Stadt wie Tokio auf den Kopf stellten und kräftig schüttelten - Sie würden staunen, was da an Tieren herausfiele. Nicht nur Katzen und Hunde. Da spannen Sie besser den Regenschirm auf, denn es würde Boa Constrictors, Komodowarane, Krokodile, Piranhas, Strauße, Wölfe, Luchse, Wallabies, Manatis, Stachelschweine, Orang-Utans und Wildsauen regnen. Und da dachten sie allen Ernstes, sie könnten - ha! Mitten im mexikanischen Dschungel, das stelle sich einer vor! Ha! Ha! Lächerlich, einfach lächerlich. Was die Leute sich denken!

Kapitel 12
    Manchmal wird er wütend. Das liegt nicht an mir (ich sage kaum etwas), er redet sich selbst in Rage. Mit seiner eigenen Geschichte. Die Erinnerung ist ein Ozean, und er hüpfthoch oben auf den Wellen. Ich habe immer Angst, dass er einfach aufhört. Aber er redet weiter. Er will ja erzählen. Selbst nach so vielen Jahren geht ihm Richard Parker nicht aus dem Sinn.
    Er ist ein so liebenswürdiger Mann. Jedes Mal wenn ich ihn besuche, kocht er mir ein südindisches Essen, ein vegetarisches Festmahl. Ich habe ihm einmal gesagt, ich äße gern scharf. Ich weiß auch nicht, wie ich auf eine dermaßen dumme Idee gekommen bin. Das war gelogen. Löffel um Löffel Joghurt gebe ich hinzu. Aber es nützt nichts. Jedes Mal dasselbe. Meine Geschmacksknospen strecken alle viere von sich, ich werde puterrot, Tränen schießen mir in die Augen, mein Kopf brennt lichterloh, und

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