Schiffbruch Mit Tiger
gerade erst eine siebenstündige Zugfahrt überstanden. Aber das spielte keine Rolle. Auf der Stelle brachen wir zu diesem hinduistischen Initiationsritus auf; Mutter trug mich im Arm, die Tante trieb sie voran. Eine bewusste Erinnerung an diesen ersten Tempelbesuch ist mir nicht geblieben, aber ein Weihrauchduft, ein Spiel von Licht und Schatten, eine Flamme, ein Farbfleck, etwas von der geheimnisvollen Würde des Ortes muss mich beeindruckt haben. Der Keim religiöser Begeisterung, nicht größer als ein Senfkorn, war gesät und ging in mir auf. Und bis zum heutigen Tag hat die Frucht nie aufgehört zu wachsen.
Ich bin Hindu, weil ich die kunstvollen roten Kegel aus Kumkumpulver liebe, die Körbe mit gelbem Kurkuma, die Blumengirlanden und Kokosnussstückchen, das Glöckchenklingeln, mit dem man Gott sagt, dass man da ist, die Trommeln und die schluchzende Flöte, das Patschen nackter Füße auf den Steinböden dunkler, von einzelnen Lichtstrahlen erhellter Korridore, den Duft von Weihrauch, die Flammen der Aratilampen, die im Dunkel kreisen, die leise gesummten Bhajans, die Segen spendenden Elefanten, die bunten Wandgemälde, die ebenso bunte Geschichten erzählen, die Stirn, auf der in wechselnden Farben stets dasselbe Wort steht-
Glaube.
All das waren Sinneseindrücke, denen ich ergeben war, lange bevor ich wusste, was sie bedeuteten oder wozu sie da waren. Meine Seele will es so. In einem Hindutempel fühle ich mich zu Hause. Ich spüre, dass etwas da ist-nicht persönlich, so wie man die Gegenwart eines anderen Menschen spürt, sondern etwas Größeres. Mein Herz stockt auch heute noch, wenn ich im Allerheiligsten das Murti sehe, das Bild des Göttlichen. Wahrlich, ein kosmischer, heiliger Schoß umgibt mich, ein Ort, an dem alles zur Welt kommt, und ich bin ein Glücklicher, der vordringt zum lebendigen Kern. Wie von selbst vereinen sich meine Hände zum Gebet. Ich sehne mich nach Prasad, dem süßen Opfer, das Gott uns gesegnet zurückgibt. Meine Handflächen warten auf das Feuer der heiligen Flamme, deren Segen ich meinen Augen und meiner Stirn bringe.
Aber Religion ist mehr als nur Ritus und Ritual. Dahinter steckt das, wofür Ritus und Ritual stehen. Und auch da bin ich Hindu. Die Welt mit Hinduaugen gesehen ist eine Welt voller Sinn. Es beginnt mit Brahma, der Weltseele, dem Rahmen, auf dem der Stoff des Lebens gewebt wird, mit allem Zierrat aus Zeit und Raum. Dann kommt Brahma nirguna, das Ungestaltete, Unbegreifliche, Unbeschreibliche, Unnahbare - mit unseren armseligen Worten nähen wir ihm ein Kleid - das Eine, das Wahre, das All, das Absolute, die Seele der Schöpfung, der Urgrund des Seins - und versuchen es passend zu machen, aber Brahma nirguna platzt doch immer wieder aus den Nähten. Wir bleiben sprachlos zurück. Zum Glück haben wir Brahma saguna, das Gegenständliche, und da passt das Kleid. Heute nennen wir es Shiva, Krishna, Shakti, Ganesha; es ist uns, innerhalb gewisser Grenzen, begreifbar; bestimmte Attribute sind auszumachen - liebevoll, gnädig, angsteinflößend —, und wir spüren, dass eine Beziehung möglich ist. Brahma saguna, das ist Brahma für unsere begrenzten Sinne begreiflich gemacht, die Weltseele, die nicht auf das Göttliche begrenzt ist, sondern sich in Menschen, Tieren, Bäumen ausdrückt, in einer Hand voll Erde, denn es gibt nichts auf der Welt, das nicht eine Spur des Göttlichen in sich trägt. Im Grunde ist Brahma nichts anderes als Atman, die spirituelle Kraft in uns, das, was man Seele nennen könnte. Die Seele des Einzelnen bezieht ihre Kraft aus der Weltseele, so wie ein Brunnen vom Grundwasser schöpft. Das, was das Universum über Gedanken und Sprache hinaus erhält, und das, was in unserem Inneren steckt und nach Ausdruck ringt, ist ein und dasselbe. Das Endliche im Unendlichen, das Unendliche im Endlichen. Wenn mich jemand fragen würde, wie Brahma und Atman zusammengehören, dann würde ich sagen, genau wie Vater, Sohn und Heiliger Geistim Mysterium vereint. Aber eines ist klar: Atman versucht Brahma Gestalt zu geben, er sucht die Einheit mit dem Absoluten, er zieht wie ein Pilger durchs Leben, wo er geboren wird und stirbt und wieder geboren wird und wieder stirbt und noch einmal und noch einmal, bis es ihm gelingt, die irdischen Hüllen abzuschütteln, in denen er gefangen ist. Viele Wege führen zur Befreiung, doch die Mauer entlang dieser Wege ist stets dieselbe, die Strecke des Karma, wo der Weg zu unserer Befreiung bald kürzer, bald länger sein
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