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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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in die Hand -, »die sind nicht gefährlich.« Die anderen Meerschweinchen liefen sofort davon.
    Vater lachte. Er gab mir das quiekende Meerschwein in den Arm. Die Lektion sollte auf einer heiteren Note enden.
    Das Tier saß verschüchtert auf meinem Arm. Ein Junges. Ich ging zum Käfig und setzte es vorsichtig wieder ab. Sofort lief es zu seiner Mutter. Der Grund dafür, dass diese Meerschweinchen nicht gefährlich waren - dass sie nicht mit Zähnen und Krallen blutige Wunden schlugen -, war, dass sie so gut wie zahm waren. In der freien Natur ein Meerschwein mit der bloßen Hand zu fassen, das wäre, als ob man in die Klinge eines Messers fasst.
    Der Unterricht war vorüber. Ravi und ich schmollten und sahen Vater eine ganze Woche lang nicht an. Auch Mutter ging ihm aus dem Wege. Als ich an der Rhinozerosgrube vorüber kam, hatte ich das Gefühl, die Nashörner sähen traurig aus, als vermissten sie den Gefährten, der sein Leben gelassen hatte.
    Aber wenn man seinen Vater nun einmal liebt, was will man da machen? Das Leben geht weiter, und man nimmt sich in Acht vor Tigern. Ich selbst war ja ohnehin so gut wie tot, weil ich Ravi eines Verbrechens bezichtigt hatte, das gar nicht existiert hatte. Noch Jahre später, wenn er in der Stimmung war, mich zu quälen, flüsterte er mir zu: »Warte nur, bis wir zwei alleine sind. Die nächste Ziege bist
du!«

Kapitel 9
    Im Mittelpunkt der Kunst und Wissenschaft des Zoobetriebs steht es, die Tiere an die Gegenwart von Menschen zu gewöhnen. Dazu muss man die Fluchtdistanz verringern - den Abstand, den das Tier zu einem Feind hält. Ein Flamingo in der Natur fühlt sich nicht bedroht, wenn man auf hundert Meter Abstand bleibt. Kommt man näher, geht er zunächst in Fluchtbereitschaft. Nähert man sich noch weiter, fliegt er auf und landet erst, wenn die Hundert-Meter-Distanz wiederhergestellt ist oder Herz und Lungen erschöpft sind. Jedes Tier hat seinen typischen Abstand, und jedes wacht auf seine Weise darüber: Katzen mit den Augen, Rehe mit den Ohren, Bären mit der Nase. Nähert man sich mit einem Fahrzeug einer Giraffe, lässt sie einen bis auf zehn Meter heran; kommt man hingegen zu Fuß, läuft sie schon bei fünfzig Metern davon. Winkerkrabben bringen sich in Sicherheit, wenn man bis auf drei Meter an sie herankommt; Brüllaffen regen sich, sobald man die Sieben-Meter-Grenze an ihrem Baum überschreitet; die Schwelle von Wasserbüffeln liegt bei fünfundzwanzig.
    Unser Wissen über ein Tier sowie Nahrung, Unterkunft und der Schutz, den wir bieten, sind Mittel, die Fluchtdistanz zu verringern. Wenn es gut geht, bekommen wir ein emotional stabiles, entspanntes Tier, das nicht nur bleibt, wo es ist, sondern gesund dabei bleibt, ein langes Leben lebt, immer seinen Teller leer isst, sich gemäß seiner Natur gesellig verhält und - stets das beste Zeichen - Nachwuchs bekommt. Ich weiß nicht, wie unser Zoo im Vergleich zu San Diego oder Toronto oder Berlin oder Singapur abgeschnitten hätte, aber einen guten Zooleiter hält nichts auf. Vater war ein Naturtalent. Was ihm an fachlicher Ausbildung fehlte, machte er durch Intuition und ein aufmerksames Auge wieder wett. Er sah ein Tier an und wusste, wie ihm zumute war. Er kümmerte sich um seine Schützlinge, und zum Dank waren sie fruchtbar und mehrten sich, manche davon im Übermaß.

Kapitel 10
    Trotz allem wird es immer wieder Tiere geben, die aus einem Zoo ausbrechen wollen. Tiere, die in unpassender Umgebung gehalten werden, sind das offensichtlichste Beispiel. Jedes Tier hat einen bestimmten Lebensraum, den es auch im Zoo braucht. Wenn sein Gehege zu sonnig ist oder zu feucht oder zu leer, wenn sein Platz zu hoch oder zu offen liegt, der Boden zu sandig ist, die Äste zu licht sind, um ein Nest zu bauen, wenn der Futtertrog zu tief steht, wenn es nicht genug Schlamm gibt, um sich darin zu suhlen - und tausend weitere Wenns -, dann ist das Tier nicht zufrieden. Es genügt nicht, die äußere Erscheinung seines Lebensraums in der Wildnis zu kopieren - was man nachbilden muss, ist das Wesen dieses Raums. Jede Einzelheit in einem Gehege muss genau richtig - anders gesagt, auf die Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Tieres eingestellt - sein. Der Teufel soll die schlechten Zoos mit ihren schlechten Gehegen holen! Weltweit bringen sie die Zoos in Verruf.
    Ebenfalls zum Ausbruch neigen Tiere, die man ausgewachsen in freier Wildbahn fängt; oft sind sie schon zu fest in ihrer Umgebung verankert, um sich an einem neuen Ort

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