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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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ich und winkte. Er sah mich an. Er schnaubte oder nieste, keins dieser Worte gibt den Laut wirklich wieder. Am ehesten war es wohl wieder das Prusten. Was für ein faszinierendes Geschöpf. Was für ein edles Antlitz. Wie passend, dass man ihn auch
Königstiger
nennt. In gewisser Hinsicht konnte ich mich glücklich schätzen. Ich hätte ebenso gut mit jemandem hier draußen sein können, der lächerlich oder hässlich aussah, einem Tapir oder einem Vogel Strauß oder einer Truthahnfamilie. Das wäre in mancherlei Hinsicht schwieriger gewesen.
    Ich hörte ein Platschen und sah hinunter zum Wasser. Der Anblick verschlug mir den Atem. Ich hatte gedacht, ich sei allein. Die ruhige Luft, das wunderbare Licht, das Gefühl relativer Sicherheit - all das hatte diese Illusion geweckt. In unserer Vorstellung sind ja Stille und Einsamkeit und Frieden untrennbar verbunden. Oder kann man sich vorstellen, dass man ruhig und friedlich in einer belebten U-Bahn-Station sitzt? Was war das also für eine Unruhe dort unten?
    Mit einem einzigen Blick erkannte ich, dass der Ozean eine Stadt ist. Direkt unter der Wasseroberfläche und von mir bislang unbemerkt gab es Schnellstraßen, Boulevards, Alleen und Kreisel, mit submarinem Verkehrsgewühl. Unten im Wasser, wo es wimmelte von Plankton, von Millionen durchsichtiger, leuchtender Partikelchen, rasten Fische wie Lastwagen und Busse und Autos und Fahrräder und Fußgänger wild durcheinander, ohne Zweifel begleitet von Hupen und Schimpfen. Die vorherrschende Farbe war Grün. In unterschiedlichen Tiefen, so weit mein Auge reichte, gab es flüchtige Bahnen phosphoreszierender grüner Bläschen, die Spuren dahinflitzender Fische. Sobald eine Spur sich verlor, tauchte eine neue auf. Diese Bahnen kamen von überallher und führten überallhin. Sie glichen den lang belichteten Aufnahmen nächtlicher Straßen, auf denen die Rücklichter der Autos lange roten Streifen hinterlassen. Nur dass die Autos hier über- und untereinander herfuhren, als bewegten sie sich auf zehnstöckigen Straßenkreuzungen. Und hier hatten die Autos die verrücktesten Farben. Die Doraden - es müssen mehr als fünfzig davon unter dem Floß ihre Runden gedreht haben - stellten im Vorbeihuschen stolz ihr leuchtendes Gold, Blau und Grün zur Schau. Andere Fische, die ich nicht identifizieren konnte, waren gelb, braun, silbern, blau, rot, rosa, grün und weiß, in allen möglichen Kombinationen, einfarbig, gestreift und gesprenkelt. Nur die Haie waren zu stur für dieses bunte Spiel. Und wie groß und farbenprächtig ein Fahrzeug auch immer sein mochte, eins blieb immer gleich: der riskante Fahrstil. Es gab viele Zusammenstöße - immer mit Todesopfern, fürchte ich -, und manche Autos gerieten völlig außer Kontrolle und prallten gegen Absperrungen, sie wurden aus dem Wasser geschleudert und fielen in leuchtenden Kaskaden klatschend wieder hinein. Ich betrachtete dieses Chaos wie jemand, der vom Heißluftballon aus auf eine Stadt hinabschaut. Es war ein faszinierendes, Ehrfurcht gebietendes Schauspiel. So ungefähr musste Tokio zur Stoßzeit aussehen.
    Ich sah zu, bis die Lichter der Stadt verloschen.
    Von der Tsimtsum aus hatte ich nur Delphine beobachtet. Ich hatte mir vorgestellt, dass der Pazifik, von vorüberziehenden Fischschwärmen abgesehen, eine dünn besiedelte Wasserwüste war. Seither habe ich gelernt, dass ein solcher Frachter für die Fische einfach zu schnell ist. Von einem fahrenden Schiff aus kann man genauso wenig die Meeresbewohner sehen wie vom Auto auf einer Schnellstraße aus die Tiere des Waldes. Delphine sind schnelle Schwimmer und umspielen Boote und Schiffe, wie Hunde Jagd auf Autos machen: sie verfolgen sie, bis sie nicht mehr mithalten können. Wer Tiere beobachten will, muss in den Wald gehen und mucksmäuschenstill sein. Und genauso ist es mit dem Meer. Nur wer den Pazifik sozusagen zu Fuß überquert, wird seinen Reichtum entdecken.
    Ich legte mich auf die Seite. Zum ersten Mal seit fünf Tagen fühlte ich ein gewisses Maß an Ruhe. Ein Hoffnungsschimmer - hart erarbeitet, wohlverdient, gut begründet - glomm in mir. Ich schlief ein.

Kapitel 60
    Einmal erwachte ich in der Nacht. Ich schob meinen Bettvorhang beiseite und sah hinaus. Der Mond stand als scharf umrissene Sichel am kristallklaren Himmel. Die Sterne schienen mit solch vehementer, konzentrierter Macht, dass es abwegig schien, die Nacht dunkel zu nennen. Die See lag still da, gebadet in ein scheues, leichtfüßiges Licht, ein

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