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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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alle Destillen verlieren, und außerdem hatte ich noch ein weiteres Sicherungsseil, das mich mit dem Rettungsboot verband. Die Destilliergeräte sahen hübsch und sehr technisch aus, wie sie so im Wasser schwammen, aber sie wirkten auch zerbrechlich, und ich hatte meine Zweifel, ob man damit tatsächlich Trinkwasser gewinnen konnte.
    Als Nächstes widmete ich mich dem Floß. Ich inspizierte jeden einzelnen Knoten, vergewisserte mich noch einmal, dass alles gut festgezurrt war. Nach einigem Überlegen beschloss ich, aus dem fünften Ruder - meiner Fußstütze - eine Art Mast zu machen. Also band ich das Ruder los. Mit der gezahnten Messerklinge schnitt ich auf halber Höhe sorgsam eine Kerbe hinein, und mit der Spitze bohrte ich drei Löcher durch den flachen Teil. Die Arbeit war mühsam, doch befriedigend. Sie hielt meinen Verstand beschäftigt. Als ich fertig war, band ich das Ruder in aufrechter Stellung an die Innenseite einer Floßecke, sodass das Blatt - die Mastspitze - nach oben zeigte und das Stielende unter Wasser verschwand. Das Seil spannte ich fest über die Kerbe, damit das Ruder nicht nach unten rutschte. Anschließend fädelte ich Seile durch die Löcher, die ich in die Mastspitze gebohrt hatte, und verband sie mit den Spitzen der horizontalen Ruder. Auf diese Weise sollte der Mast in seiner aufrechten Stellung verankert werden, und ich bekam Leinen, an denen ich eine Art Dach befestigen und Essensvorräte aufhängen konnte. Die Schwimmweste, die mit der Fußstütze verbunden gewesen war, band ich an den Fuß des Masts. Ihr war eine doppelte Funktion zugedacht: Sie lieferte dem Floß zusätzlich Auftrieb, als Ausgleich für das Gewicht des Masts, und sie ergab einen leicht erhöhten Sitzplatz für mich.
    Dann warf ich eine Decke über die gespannten Leinen. Sie rutschte herunter. Der Neigungswinkel war zu steil. Ich faltete die Längsseite der Decke einmal um, schnitt in der Mitte zwei Löcher hinein, im Abstand von etwa dreißig Zentimetern, und verband diese Löcher mit einer Schnur, die ich dadurch erhielt, dass ich ein Stück Seil aufdröselte. Dann warf ich die Decke erneut über die Leinen, nur dass ich sie diesmal mit der Schlaufe am Mast befestigte. Jetzt hatte ich einen Baldachin.
    Ich verbrachte fast den ganzen Tag mit Arbeiten am Floß. Es gab so viele Kleinigkeiten zu bedenken. Die See war ruhig, aber trotzdem machten die ständigen Wellenbewegungen mir die Arbeit nicht leichter. Und ich musste Richard Parker im Auge behalten. Das Ergebnis meiner Mühen war keine stolze Galeone. Der so genannte Mast endete wenige Zentimeter über meinem Kopf. Und was das Deck angeht, so war es gerade groß genug, dass ich im Schneidersitz darauf sitzen oder zusammengerollt wie ein Embryo darauf liegen konnte. Aber es war seetüchtig, und es bot Schutz vor Richard Parker.
    Als ich meine Arbeiten abgeschlossen hatte, neigte der Nachmittag sich dem Ende zu. Ich holte eine Dose Wasser, einen Dosenöffner, vier Notration-Zwiebacke und vier Wolldecken. Dann schloss ich den Stauraum (diesmal sehr leise), setzte mich auf das Floß und wickelte die Leine wieder ab. Das Floß entfernte sich vom Rettungsboot. Das Hauptseil spannte sich, das Sicherungsseil hingegen, das ich bewusst länger gelassen hatte, hing durch. Ich legte zwei Decken unter mich, sorgsam zusammengefaltet, sodass sie nicht mit dem Wasser in Berührung kamen. Die beiden anderen wickelte ich mir um die Schultern und lehnte mich gegen den Mast. Ich genoss die leicht erhöhte Position, die mir die zusätzliche Schwimmweste verschaffte. Ich saß zwar kaum höher als jemand, der auf einem dicken Sitzkissen auf dem Fußboden hockt, aber trotzdem hatte ich Hoffnung, dass ich nicht ganz so nass werden würde.
    Ich aß mit Vergnügen und beobachtete den Sonnenuntergang bei wolkenlosem Himmel. Es war ein Augenblick der Entspannung. Das Himmelsgewölbe erstrahlte in den herrlichsten Farben. Auch die Sterne wollten ihren Teil dazu beitragen; kaum hatte sich die bunte Decke ein wenig gelüftet, da begannen sie schon auf tiefblauem Untergrund zu funkeln. Es wehte eine sanfte, laue Brise, und die See bewegte sich sanft; die Wellen wirkten wie Tänzer, die bei einem Rundtanz in der Mitte zusammenkommen, die Hände heben und sie dann im Auseinandergehen wieder sinken lassen, und das immer und immer wieder.
    Richard Parker hatte sich aufgesetzt. Nur der Kopf und ein Teil seiner Schultern ragten über den Bootsrand. Er blickte sich um. »Hallo, Richard Parker!«, rief

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