Schiffbruch Mit Tiger
recken und mich in den Hintern beißen können. Als sie sich abwandte, griff ich nach ihrer Flosse, doch bei der ersten Berührung zuckte ich angewidert zurück. Die Schildkröte schwamm davon.
Die Stimme, die mich schon für das Ungeschick mit der Angel getadelt hatte, meldete sich wieder zu Wort. »Womit willst du deinen Tiger füttern? Was glaubst du, wie lange ihm die drei toten Tiere noch reichen? Muss ich dich tatsächlich daran erinnern, dass Tiger keine Aasfresser sind? Gut, wenn ihm der Magen knurrt, wird er nicht wählerisch sein. Aber bevor er ein halb verwestes, aufgedunsenes Zebra anrührt, hält er sich doch lieber an den saftigen kleinen Inder direkt vor seiner Nase, meinst du nicht? Und wie steht's mit Wasser? Du weißt doch, wie unleidlich ein durstiger Tiger wird. Hast du in letzter Zeit mal seinen Atem gerochen? Er stinkt erbärmlich. Das ist ein schlechtes Zeichen. Hoffst du am Ende, dass er den Pazifik aussäuft, damit du zu Fuß nach Amerika gehen kannst? Schon erstaunlich, dass bengalische Tiger bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit entwickelt haben, Salz auszuscheiden. Das kommt wohl daher, dass sie in den Mangrovensümpfen an der Küste leben. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grade. Heißt es nicht auch, dass ein Tiger, der zu viel Salzwasser trinkt, zum Menschenfresser wird? Oh, sieh nur. Wenn man vom Teufel spricht. Schau ihn dir an. Er gähnt. Donnerwetter, was für eine riesige rosa Höhle. Und die Stalagmiten und Stalaktiten darin, lang und gelb. Vielleicht kannst du sie dir ja demnächst von nahem ansehen.«
Richard Parker zog seine Zunge zurück - sie war groß und rot wie eine Gummiwärmflasche - und schloss das Maul. Er schluckte.
Den Rest des Tages war ich krank vor Sorge. Ich mied das Rettungsboot. Entgegen meinen eigenen düsteren Prophezeiungen blieb Richard Parker bemerkenswert ruhig. Er hatte noch genug Regenwasser, und der Hunger schien ihn nicht übermäßig zu plagen. Aber er stieß allerlei Tigerlaute aus - Knurren und Stöhnen und dergleichen mehr -, die nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrugen. Eine unlösbare Aufgabe: Zum Fischen brauchte ich Köder, aber Köder hatte ich erst, wenn ich Fisch hatte. Was sollte ich tun? Mir eine Zehe abschneiden? Ein Ohr?
Die Lösung kam am späten Nachmittag, und unerwarteter hätte sie kaum sein können. Ich hatte mich wieder an das Rettungsboot angenähert. Mehr noch: Ich war an Bord geklettert und durchwühlte den Stauraum, fieberhaft auf der Suche nach einer lebensrettenden Idee. Ich hatte das Floß so festgebunden, dass es etwa zwei Meter vom Boot entfernt lag. Wenn ich sprang und sofort Leine gab, konnte ich mich notfalls vor Richard Parker in Sicherheit bringen, dachte ich. Die Verzweiflung hatte mich dazu getrieben, dass ich ein solches Risiko einging.
Als ich nichts fand, weder Köder noch eine neue Idee, richtete ich mich auf - und stellte fest, dass er mich geradewegs anstarrte. Er saß am anderen Ende des Rettungsboots, da wo vorher das Zebra gewesen war, und hatte allem Anschein nach seelenruhig abgewartet, bis ich ihn bemerkte. Wieso hatte ich nicht gehört, dass er sich regte? Wie konnte ich mir einbilden, ich könnte ihn überlisten? Plötzlich traf mich ein heftiger Schlag ins Gesicht. Ich schrie auf und schloss die Augen. Mit einem Raubtiersatz war er ans andere Ende des Rettungsboots gesprungen und hatte mir einen Hieb versetzt. Er würde mir das Gesicht zerfleischen - so grausam würde ich sterben. Der Schmerz war so stark, dass ich nichts spürte. Dem Himmel sei Dank für den Schock. Dem Himmel sei Dank für das in uns, was uns vor übergroßem Schmerz und Kummer bewahrt. Mitten im Herzen des Lebens sitzt ein Sicherungskasten. »Nun mach schon, Richard Parker, töte mich. Tu was du tun musst«, hauchte ich, »aber bitte tu es schnell. So eine Sicherung hält nicht ewig.«
Er ließ sich Zeit. Er war direkt vor mir und machte seltsame Geräusche. Bestimmt hatte er den Stauraum und seinen Inhalt entdeckt. Voller Angst schlug ich ein Auge auf.
Es war ein Fisch. Im Stauraum lag ein Fisch. Er zappelte auf dem Trockenen. Er war etwa dreißig Zentimeter lang und hatte Flügel. Ein Fliegender Fisch. Schlank und graublau, mit trockenen, federlosen Flügeln und runden, lidlosen, gelblichen Augen. Der Fisch hatte mir ins Gesicht geschlagen, nicht Richard Parker. Der saß noch immer in drei Metern Entfernung und wunderte sich zweifellos über mein merkwürdiges Benehmen. Aber er hatte den Fisch gesehen.
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