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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yann Martel
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Gespannte Neugier spielte auf seinen Zügen. Er schien im Begriff, die Lage zu erkunden.
    Ich bückte mich, hob den Fisch auf und schleuderte ihn zu ihm hinüber. So würde ich ihn zähmen! Erst eine Ratte, jetzt ein Fliegender Fisch. Doch leider konnte der Fliegende Fisch fliegen. Mitten in der Luft, unmittelbar vor Richard Parkers weit aufgerissenem Maul, schlug der Fisch plötzlich einen Haken und stürzte sich ins Meer. Es geschah blitzartig. Richard Parker drehte den Kopf zur Seite und schnappte, seine Kiefer schlugen aufeinander, aber der Fisch war zu schnell. Er blickte verblüfft und missmutig drein. Er wandte sich wieder mir zu. »Wo ist mein Leckerbissen?«, schien er zu fragen. Angst und Verzagtheit packten mich. Ich wandte mich um in der halbherzigen Hoffnung, ich könne das Floß erreichen, bevor er zum Sprung ansetzte.
    Im selben Augenblick schien die Luft zu beben, und wir steckten mitten in einem Schwarm Fliegender Fische. Sie brachen über uns herein wie die Heuschrecken. Es war nicht nur die große Zahl; auch das Geräusch ihrer raschelnden, schwirrenden Flügel erinnerte an Insekten. Sie kamen zu Dutzenden aus dem Wasser geschossen, und manche flatterten über hundert Meter weit durch die Luft. Viele tauchten unmittelbar vor dem Boot wieder ins Wasser. Einige segelten geradewegs darüber hinweg. Einige prallten gegen die Seiten, und es klang wie explodierende Knallfrösche. Einige fanden nach einem kleinen Hopser auf der Plane den Weg zurück ins Wasser. Andere hatten weniger Glück und landeten mitten im Boot, wo sie verzweifelt flatterten und zappelten und spritzten. Wieder andere stießen direkt mit uns zusammen. Ungeschützt, wie ich dastand, kam ich mir wie der heilige Sebastian vor. Jeder Fisch, der mich traf, war wie ein Pfeil in meinem Fleische. Ich versuchte, mich mit einer Decke zu schützen und gleichzeitig ein paar von den Fischen zu fangen. Ich trug Schrunden und blaue Flecken am ganzen Körper davon.
    Den Grund für die Aufregung sahen wir sogleich: Doraden jagten blitzschnell ihrer Beute nach. Diese weit größeren Fische konnten zwar nicht fliegen, aber sie waren schnelle Schwimmer, und ihre kurzen Sprünge waren sehr kraftvoll. Wenn sie unmittelbar hinter ihnen waren, im gleichen Moment aus dem Wasser schnellten und in die gleiche Richtung sprangen, konnten sie die Fliegenden Fische fangen. Haie waren ebenfalls zur Stelle; auch sie sprangen aus dem Wasser, nicht so elegant, aber mit fatalen Folgen für einige Doraden. Das ganze Chaos war binnen kurzem vorüber, aber solange es anhielt, kochte und brodelte die See, Fische sprangen und Mäuler schnappten erbarmungslos zu.
    Richard Parker ließ sich von dem Ansturm der Fische weniger aus der Ruhe bringen als ich, und er war weitaus erfolgreicher. Er richtete sich auf und konzentrierte sich ganz darauf, so viele Fische wie möglich mit seinen Pranken und Zähnen zu fangen. Viele verschlang er bei lebendigem Leibe, unbeirrt von den Flügeln, die noch im Maul flatterten. Es war atemberaubend, mit welcher Kraft und Schnelligkeit er zuschlug. Genauer gesagt war es weniger die Geschwindigkeit als vielmehr die traumwandlerische Sicherheit des Tieres, die so eindrucksvoll war, sein völliges Aufgehen im Augenblick. Um eine solche Mischung aus Leichtigkeit und Konzentration, ein solches In-der-Gegenwart-Sein hätten ihn selbst die weisesten Yogis beneidet.
    Als der Spuk vorbei war, war ich geschunden am ganzen Leib, im Stauraum lagen sechs Fliegende Fische und eine weit größere Zahl im Rettungsboot. Rasch wickelte ich einen Fisch in eine Decke, schnappte mir ein Beil und kletterte auf das Floß.
    Ich ging mit größter Umsicht zu Werke. Der Misserfolg des Vormittags hatte mich ernüchtert. Noch so einen Fehler konnte ich mir nicht leisten. Behutsam wickelte ich den Fisch aus und hielt ihn mit einer Hand fest, denn mir war klar, dass er versuchen würde, sich durch einen Sprung zu retten. Je näher der Augenblick der Enthüllung rückte, desto größer meine Angst und mein Ekel. Der Kopf des Fisches kam zum Vorschein. So wie ich ihn hielt, sah er wie eine Kugel widerliches Fisch-Eis auf einem wollenen Waffelhörnchen aus. Das Ding schnappte nach Wasser, Maul und Kiemen öffneten und schlossen sich langsam. Ich spürte den Druck seiner Flügel in meiner Hand. Ich nahm den umgestülpten Eimer als Hackklotz und legte seinen Kopf oben darauf. Ich packte das Beil. Ich hob es empor.
    Mehrmals holte ich mit dem Beil aus, aber ich konnte einfach

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