Schilf
und winkt.
»Bevor ich es vergesse«, sagt Schilf. »Der Polizeipräsident hat mich angerufen. Ich soll sofort zurück nach Stuttgart.«
Rita richtet sich ruckartig auf, als hätte man ihr einen elektrischen Schlag verpasst.
»Der Medizinerskandal«, Schilf pustet in den rechten Handteller, »hat sich in Luft aufgelöst. Puff!«
»Was sagen Sie da?«
»Ich sage, meine Zeit ist in jeder Hinsicht knapp.«
Weil Rita heftig atmet, als wollte sie sich wie ein heiß gelaufener Computer selbst zum Absturz bringen, dreht er sich noch einmal nach ihr um.
»Eine Schwesternschülerin«, sagt er. »Sie hat Herzpatienten vor der Operation Blutverdünner gegeben anstelle der vorgesehenen Beruhigungsmittel. Die sehen anscheinend alle gleich aus, diese kleinen Pillen. Dummer Fehler.«
Erschöpft lässt sich die Kommissarin in die Polster sinken. Was sind schon ein paar sinnlos vergeudete Wochen. Was bedeuten schlaflose Nächte, peinliche Auftritte im Krankenhaus, Vernachlässigung der Hauskatze, ungerechte Beschimpfungen durch Vorgesetzte. Wen interessiert Höchstleistung ohne Nutzen! Für all das gibt es ein Wort: totales Versagen. Kaum hat Rita das gedacht, fühlt sie sich, als hätte man sie für geheilt erklärt, ohne operiert zu haben. Sie schwebt. Sie könnte singen. Den Kommissar küssen oder ihm den Hals umdrehen.
Ihr bleibt wenig Zeit zum Grübeln. Schnurpfeil reißt die Fahrertür auf und schwingt sich hinter das Steuer. Während Sebastian durch die Seitentür in den Wagen steigt und die Kühlbox wieder auf den Schoß nimmt, sitzt der Polizeiobermeister still, beide Hände auf dem Lenkrad, den Kopf gesenkt wie ein Schuljunge.
»Lampenfieber?«, fragt Schilf.
»Ich glaube, ich mag nicht mehr«, sagt Schnurpfeil.
Rita bedenkt jeden im Wagen mit einem nachdenklichen Blick. Auf einmal glaubt sie zu wissen, wie sich Sebastian fühlt. Und der Kommissar. Vielleicht auch Oskar. Am Ende geht es wohl darum, der allumfassenden Niederlage mit gestrafftem Rücken zu begegnen. Schnell streckt die Kommissarin eine Hand aus und legt sie dem Polizeiobermeister auf die Schulter.
»Schnurpfeil«, sagt sie. » Ich leite diesen Einsatz.«
Er zeigt den Anflug eines Lächelns.
»Was jetzt?«, fragt er.
»Nach Hause«, sagt der Kommissar. »Warten.«
6
S o ungeduldig läuft Julia ihnen über den Flur der Dienstwohnung entgegen, dass der Kommissar froh ist, ihr etwas bieten zu können. Seine Freundin hängt sich bei ihm ein, während er ihr den Mörder vorstellt. Dieser hält sich dicht an der soeben geschlossenen Eingangstür und wirkt unbeholfen, zu groß und zu sperrig in den engen Räumlichkeiten. Seine linke Hand umklammert den Griff der Kühltasche. Dem Kommissar und seiner Freundin, die ihn mit vereinten Kräften anlächeln, blickt er scheu in die Gesichter, als stünde er vor einem Tribunal.
Schilf wollte ihn nicht noch einmal allein lassen und hat deshalb gebeten, die letzten Stunden vor dem großen Auftritt gemeinsam abzusitzen. Weil Sebastian zögerte, nannte er die Einladung einen Befehl. Jetzt begreift Schilf, dass ein Kommissar in seinen privaten Räumen und in Anwesenheit seiner Freundin keine offizielle Person mehr ist. Sebastian sieht sich plötzlich einem Unbekannten und seiner jüngeren Frau gegenüber und muss sich fragen, was diese beiden Menschen von ihm denken. So wenig, wie sich ein Patient vor dem Arzt für seine Krankheit schämt, schämt sich ein Mörder vor der Polizei für den Mord. Aber im persönlichen Umgang fehlt es Sebastian an Übung mit seinem Verbrechen. Wie ein Unfallopfer muss er alles neu erlernen, das Sprechen, das Gestikulieren, das Einander-in-die-Augen-Schauen. Je früher du damit anfängst, desto besser, denkt der Kommissar.
Julia streckt die Hand aus und behauptet, dass ihr Sebastian in echt noch besser gefalle als im Fernsehen, was diesen merklich entspannt. Der Kommissar geht schon voran ins Wohnzimmer, als ihm auffällt, dass er beinahe das Ergebnis eines wichtigen Experiments übersehen hätte. Im Treppenhaus hat er sich noch vor dem Zusammentreffen zwischen Julia und Sebastian gefürchtet. Er hat sich vorgestellt, wie seine Freundin Sebastian die Hand gibt, wie in diesem Moment der Blitz einschlägt und Julia zu einer kleinen Rauchschwade verbrennt. Oder wie, schlimmer noch, Sebastian in die Wohnung hinein- und einfach durch Julia hindurchläuft, als wäre sie gar nicht da. Flüchtig spürt Schilf Gewissensbisse. Er ist nicht sicher, warum er seine Angst im entscheidenden
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