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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Schnurpfeil möge in die nächste Tankstelle einbiegen, alle außer ihr aus dem Auto werfen und einfach losfahren, raus aus der Stadt, über die A5 Richtung Basel und immer weiter geradeaus, bis sich irgendwann das Meer zwischen den Bäumen zeigt. Leider macht Schnurpfeil keine Anstalten dazu. Stattdessen konzentriert er sich auf den Abendverkehr und verrät durch keine Regung, dass er sich gerade vorstellt, wie er an der nächsten Tankstelle alle außer Rita aus dem Wagen werfen könnte, um dann mit ihr davonzufahren, immer weiter, bis ans Meer.
    Ritas Finger trommeln einen Wirbel auf den Oberschenkeln. Schilfs Hilfeschrei hat irgendetwas mit ihrem Selbstbewusstsein angestellt. Ihr Gefühl rät ihr, den Leitenden Oberstaatsanwalt anzurufen und um einen Haftbefehl für Sebastian zu bitten. Wenn sie wie gewohnt vom Gegenteil dieser Überzeugung ausgeht, muss sie sitzen bleiben und weiter den Ideen eines Unzurechnungsfähigen folgen. Anscheinend funktioniert die Methode nicht mehr. Oder vielleicht ist sie schlicht auf ihren Erfinder nicht anwendbar.
    Als der Kommissar eine Pause einlegt, fährt Rita dazwischen.
    »Das ist geisteskrank.« Sie beugt sich vor und tippt sich an die Stirn. »Sie sind gefährlich, Schilf. Sie haben einen Vogel.«
    Der plötzliche Heiterkeitsausbruch des Kommissars dröhnt durch den Wagen und klingt am Ende nach einem Erstickungsanfall.
    »Einen Vogel!«, keucht er und legt ebenfalls einen Finger an die Stirn. »Der war gut.«
    »An der nächsten Kreuzung steige ich aus«, sagt Rita.
    »An der nächsten Kreuzung«, sagt Schilf zu Schnurpfeil und legt ihm eine Hand auf den Unterarm, »halten Sie an. Vor dem Sportgeschäft.«
    Der Wagen bremst. Schnurpfeil steigt aus und wirft wütend die Fahrertür ins Schloss. Schilf reicht ihm seine Brieftasche durchs offene Fenster.
    »Zweimal Hemd, Hose und Schuhe«, sagt er. »Die Trikots in Gelb. Und nehmen Sie Sebastian mit, wegen der Größe.«
    So behutsam, als handelte es sich um die Wiege eines Neugeborenen, stellt Sebastian die Kühltasche in den Fußraum, bevor er den Wagen verlässt. Mit leerem Kopf sieht Rita zu, wie er und Schnurpfeil das Sportgeschäft betreten. Als die beiden Männer verschwunden sind, legt Schilf einen Arm über die Rückenlehne und schaut die Kommissarin an. Sie schweigen. Die Stille tut gut, auch wenn Rita weiß, dass Schilf mit diesem langen Blick nur verhindern will, dass sie aus dem Auto springt und davonläuft.
    »Also gut«, sagt sie schließlich. »Dann aber Klartext. In einfachen Worten.«
    Schilf presst Daumen und Zeigefinger auf die Augenlider, als benötigte er ein Höchstmaß an Konzentration.
    »Oskar hat ein Paralleluniversum inszeniert«, sagt er. »Liam wurde entführt und gleichzeitig auch nicht. Sebastian sollte erkennen, was es bedeutet, wenn man sich auf die Wirklichkeit nicht verlassen kann. Wie es wäre, wenn es kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch gäbe.«
    »Soweit die Theorie«, sagt Rita. »Kommen wir zur Praxis.«
    »In gewissem Sinn war die Entführung eine Versuchsanordnung. Aber es ist etwas schiefgegangen. Der sogenannte Zufall hat seiner Grausamkeit ein weiteres Denkmal gesetzt. Und dabei die Welten durcheinandergebracht.«
    »Tut mir leid. Ich kann nicht folgen.«
    »Denken Sie an zwei Züge, die einen Moment lang mit gleicher Geschwindigkeit nebeneinander fahren. Absolut parallel. In diesem Augenblick kann man umsteigen. Oskar hat den Fahrplan entworfen, der Zufall die Katastrophe. Sebastian ist zwischen den Universen verrutscht.«
    Endlich nimmt Schilf die Hand vom Gesicht. Seine Augen glänzen.
    »Rita-Kind, wir werden eine zweite Parallelität erzeugen. Um Sebastian die Rückkehr in seine Welt zu ermöglichen!«
    »Sie können einem richtig Angst machen.«
    Rita streift die Kühltasche mit einem Blick, wirft ihr Haar zurück und sieht hinaus, als müsste sie sich überzeugen, dass wenigstens draußen alles beim Alten ist.
    »Ich fasse aus meiner Sicht zusammen«, sagt sie dann. »Es geht nicht um einen Paralleluniversen-Quatsch, sondern darum, dass Oskar der wahre Schuldige ist. Ihrer Meinung nach hat er seinen Freund in die Scheiße geritten, um ihm eine Lektion in Verantwortung zu erteilen. Und jetzt sitzt er in Genf und tut so, als ginge ihn das alles nichts an.«
    »Sag ich doch!«
    Die Miene des Kommissars wird von einem solchen Strahlen erhellt, dass Rita nicht widersprechen kann. Sie lässt es zu, dass er die Hand ausstreckt und ihr die Wange tätschelt. Manchmal

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